Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Briefe aus dem Gefaengnis

Briefe aus dem Gefaengnis

Titel: Briefe aus dem Gefaengnis
Autoren: Michail Chodorkowski
Vom Netzwerk:
0,9 Millionen) zu schätzen, woraufhin – bitte jetzt genau aufpassen! – die Million, die Sie gezahlt haben, als »ohne Gegenleistung« betrachtet wird. Das ist kein Witz. So werden Gesetze in der Praxis angewandt.

    Wenn im Strafgesetzbuch von einer Handlung »gegen den Willen der Aktiengesellschaft« die Rede ist, Sie aber der einzige Aktionär sind, folgern Sie natürlich daraus, dass die Gesellschaft unmöglich andere Interessen neben Ihren eigenen haben kann. Nun, unser »menschlichstes aller Gerichte« wird Ihnen helfen, Ihre höchst mangelhafte Wahrnehmung der Realität zu korrigieren. Tatsächlich werden die Interessen des Unternehmens weder von Ihnen noch von der Gesellschaft festgelegt, sondern vom Staatsanwalt.
    Die im Strafgesetzbuch auf Anregung Medwedews vorgenommenen Änderungen bezüglich des Straftatbestands der Steuerhinterziehung hatten bisher wenig Einfluss auf die Interessen dieser Räuberbanden in Uniform. Schon zuvor liebten sie diese Artikel nicht wirklich: Das Strafmaß ist zu gering, »nur« maximal sechs Jahre. Die Ergänzung dieses Artikels um die Möglichkeit der kollateralen Rechtsverwirkung (ein Verbot, faktische Umstände, die zuvor von Gerichten begründet worden waren, zu ignorieren) hat nun zu wütenden Unmutsäußerungen und zur aktiven Suche nach Wegen, dieses neue Gesetz zu umgehen, geführt. Schließlich sind so Schmier- und Bestechungsgelder in Milliardenhöhe gefährdet. Besonders weil sich die höchsten Richter des Hohen Wirtschaftsgerichtshofes in letzter Zeit durchaus unabhängig gezeigt haben.
    Das ist jedoch nur die Spitze des Eisbergs. Ohne Schwierigkeiten kann ein Ermittler jedem Unternehmer auch ohne Urteilsspruch eineinhalb Jahre Gefängnis verschaffen. Im Verlauf dessen können sich auch Dokumente, die die Funktionäre selbst Ihnen ausgestellt haben, als ungesetzlich
erweisen (die Entwicklung der »Retschnik«-Siedlung ist ein Beispiel dafür), und der Verkauf Ihres Hauses kann, wenn der Präsident des Landes nicht persönlich eingebunden ist, Sie beispielsweise zum Geldwäscher machen. Und das heißt – wieder aufgepasst! – dass Sie entsprechend unseren humanen Gesetzen ein »besonders gefährlicher Verbrecher« sind und 22,5 Jahren in einer Strafkolonie entgegensehen.
    Dachten Sie tatsächlich, es wäre grausam, Ihr Haus zu demolieren und Sie mit einer Geldbuße abzustrafen? Woher denn, Juri Luschkow 80 ist der Humanist der Humanisten verglichen mit diesen Räubern in Uniform.
    Nun, und zuletzt: Wollen Sie bei Gericht für Lacher sorgen? Zitieren Sie ein Verfassungsprinzip – nämlich das der Unschuldsvermutung. Unser Justizsystem baut nicht auf diesem Prinzip auf. Das ist der wahre Grund, weshalb die Angriffe auf die Institution des Geschworenengerichts in der letzten Zeit immer zahlreicher werden.
    Geschworene deuten in der Regel verbliebene Zweifel im Sinne der Verfassung, also zugunsten der Angeklagten, und eine nicht erwiesene Anschuldigung verstehen sie als gleichbedeutend mit Unschuld.
    Aber jedes noch so kleine Rad in der Maschinerie des Systems ist vom Gegenteil überzeugt. Wenn Sie unschuldig sind, dann beweisen Sie es – und tun Sie dies, während Sie
im Gefängnis sitzen. Und diese Überzeugung wird jeden Tag durch die juristische Praxis neu bestätig – 0,8 Prozent der Prozesse enden mit einem Freispruch und 20 Prozent der Freisprüche durch Geschworenengerichte werden im Nachhinein aufgehoben.
    Ein Richter hat »keinerlei Veranlassung, nicht zu glauben, was eine Person in Uniform geschrieben hat«, während die Aussagen eines gewöhnlichen Bürgers nur der »Versuch sind, sich der Haftung zu entziehen«.
    Interessant ist doch, dass das Vertrauen der Mehrheit der Richter in die Richtigkeit dieser Überlegung sehr stark den Regeln des kriminellen Milieus entspricht, wo das Wort einer Autorität weit mehr gilt als das Wort eines »Muschik«. 81 Ein Überbleibsel der Feudalgesellschaft, in der das Wort eines Adeligen schwerer wog als das des einfachen Leibeigenen.
    Jedes Jahr verschlingt das Justiz- und Polizei-Förderband die Menschenwürde und die Schicksale Hunderttausender Mitbürger, die in Gefängnissen enden, von Freunden und Verwandten getrennt werden oder »nur« ihr Hab und Gut verlieren. Hierher gehören auch die Schicksale der echten Opfer, die das System gar nicht braucht. Die, die in die Mühlen dieser Maschine geraten, kommen nicht unbeschädigt aus ihr heraus. Das Förderband lähmt vor Angst und raubt Millionen die Lebenskraft.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher