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Bretonische Brandung

Bretonische Brandung

Titel: Bretonische Brandung
Autoren: Jean-Luc Bannalec
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nachdem, wo sie ins Wasser gekommen sind, sind sie womöglich im Kreis getrieben. Die Richtungen der Strömungen wechseln, je nach Tidenstand, Wetter, Jahreszeit.«
    »Ich verstehe: Es lassen sich noch keinerlei Aussagen treffen.«
    »Es ist eine Eigenart des Archipels, dass bei bestimmten Konstellationen von Sonne, Mond und Erde viele Strömungen zu Le Loc’h führen. Zu allen Zeiten wurden hier Schiffbrüchige angeschwemmt. Bei Unfällen großer Schiffe waren es manchmal Dutzende Leichen, die am Strand gefunden wurden. Deswegen hat man auf der Insel im 19. Jahrhundert einen Friedhof gebaut, direkt neben der Kapelle. So musste man die Toten nicht extra nach Saint-Nicolas bringen, wo zuvor der einzige Friedhof des Archipels gewesen war. Hier wurden sie alle begraben. – Man hat auf der Insel sogar schon Grabstätten aus der frühen keltischen Zeit gefunden.«
    »Sie wurden immer hier angeschwemmt?«
    Dupin sah sich unwillkürlich mit einem seltsamen Gefühl um.
    »Man hielt die Insel über Jahrhunderte für das sagenumwobene Versteck von Groac’h, der Hexe der Schiffsuntergänge. Sie war unermesslich reich, reicher als alle Könige zusammen, heißt es. Und ihre Schatztruhe war der See, der eine unterirdische Verbindung mit dem Meer hat. Eine magische Strömung brachte so die Schätze aller versunkenen Schiffe zu ihr. Auf dem Grund stand auch ihr Palast.«
    Riwal lächelte, als Goulch geendet hatte, aber es sah deutlich angestrengt aus.
    »Sie frisst gern junge Männer«, ergänzte Goulch, »sie verführt sie, verwandelt sie in Fische, frittiert sie und frisst sie. Viele haben sich auf die Suche nach dem sagenhaften Schatz gemacht. Nie ist einer zurückgekommen. Es gibt unzählige Geschichten.«
    So war es in der Bretagne. Unter der Oberfläche des Gewöhnlichen und Natürlichen wirkten obskure Kräfte. Und jeder Ort hatte seine eigenen übernatürlichen Geschichten. Auch wenn sich die Bretonen selbst darüber lustig machten – und Dupin kannte keinen Menschenschlag, der sich allgemein so souverän und grandios über sich selbst lustig machen konnte –, bei diesen Geschichten erstarb das Lachen von einem Augenblick auf den nächsten, und alles war ganz real. Es steckte zu tief, über Tausende Jahre war das Übernatürliche die natürlichste Wahrnehmung der Welt gewesen – und nur, weil man sich jetzt im 21. Jahrhundert befand, sollte es plötzlich anders sein?
    »Ich will die anderen beiden Toten sehen.«
    Dupin ging den Strand entlang, Goulch und Riwal folgten ihm. Die erste, die entscheidende Frage war im Moment: Waren die Männer Opfer eines Unfalls geworden? Ertrunken? Gab es irgendwelche Hinweise, dass es etwas anderes als ein Unfall gewesen sein könnte?
    Die leblosen Körper lagen einander zugewandt auf der Seite, die Arme dem anderen entgegengestreckt. Es sah ein wenig makaber aus, als hätten sie noch gelebt und in ihrer Agonie mit letzter Kraft zueinanderkriechen wollen. Der unheimliche Eindruck der Szene wurde von einer Reihe großer Perlmuttmuscheln verstärkt, die wie arrangiert um die Toten herumlagen und in allen Regenbogenfarben schimmerten. Goulchs Kollegen knieten zwischen den Leichen, der eine machte Fotos mit einer Digitalkamera. Wortlos stellte sich die kleine Gruppe neben sie und betrachtete die beiden Körper.
    Dupin löste sich nach einigen Momenten, ging langsam mehrere Male um die Leichen herum und bückte sich dabei immer wieder. Die gleichen schweren Fleischwunden, bei dem einen fast ausschließlich am Unterkörper, beim anderen am ganzen Körper verteilt, stark zerfetzte Kleidung (Baumwollhosen, Polohemden, Fleecejacken, feste Schuhe), ein paar Algen und Seetang, auf und in den Wunden.
    Der Polizist mit der Kamera richtete sich langsam auf:
    »Wie der Tote dort drüben weisen sie auf den ersten Blick keine anderen Verletzungen auf als solche, die spitze Felsen ihnen beim Treiben in der Brandung zugefügt haben könnten.«
    »Auf dem Meer muss man niemanden verletzen, um ihn zu töten. Es reicht ein kleiner Stoß, ein Sturz ins Wasser. Bei Unwettern und hohem Seegang hat selbst ein geübter Schwimmer nicht den Hauch einer Chance. – Weisen Sie einen kleinen Schubser einmal nach.«
    Goulch hatte mit jedem Satz recht. Man musste hier draußen anders denken.
    »Das zweite Boot kommt.«
    Dupin fuhr zusammen. Goulch deutete aufs Meer. Die Luc’hed näherte sich mit hohem Tempo der Bir, erst kurz bevor sie diese erreichte, verlangsamte sie ihre Fahrt. Sie stoppte direkt neben der Bir und
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