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Bretonische Brandung

Bretonische Brandung

Titel: Bretonische Brandung
Autoren: Jean-Luc Bannalec
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ihm per Telefon lediglich mitteilen können, was er wiederum von dem aufgeregten Anruf »eines Mannes mit starkem englischen Akzent« wusste, der kurz zuvor beim Kommissariat eingegangen war. Die Leichen lagen am nordöstlichen Strand von Le Loc’h, der größten Insel des Archipels – und mit »der größten Insel« war eine Länge von vierhundert Metern gemeint. Le Loc’h war unbewohnt, besaß eine Klosterruine, einen alten Friedhof, eine verfallene Sodafabrik und, als größte Attraktion der Insel, einen lagunenähnlichen See. Kadeg hatte ein Dutzend Mal wiederholen müssen, dass er nichts weiter als ebendiese paar Informationen hatte. Dupin hatte Kadeg mit allen möglichen Fragen gelöchert, seine geradezu fanatische Neigung zu scheinbar unbedeutenden Einzelheiten und Umständen war notorisch.
    Drei Tote, ohne dass irgendjemand irgendetwas wusste – in der Präfektur hatte verständlicherweise erhebliche Aufregung geherrscht: Das war eine ziemlich große Sache hier im Finistère, am malerischen Ende der Welt, wie die Römer es genannt hatten. Für die Gallier, die Kelten – und als solche verstanden sich die Menschen hier bis heute –, war es natürlich das genaue Gegenteil: nicht das Ende, sondern wortwörtlich der »Anfang«, das »Haupt der Welt«. »Penn ar Bed«, nicht »finis terrae«.
    Das Boot hatte mittlerweile abgebremst. Sie fuhren nur noch mit mäßiger Geschwindigkeit. Es folgte eine schwierige Navigation. War das Meer hier ohnehin seicht und durchsetzt von steil aufragenden Felsen – über und unter der Wasseroberfläche – und Bootfahren in diesen Gewässern grundsätzlich nur etwas für äußerst geübte Kapitäne, so war es wie jetzt bei Ebbe noch heikler. Die »Einfahrt« zwischen Bananec und der großen Sandbank vor Penfret war noch der ungefährlichste Zugang zum Archipel, über sie gelangte man in die »Kammer«, wie der durch die umliegenden Inseln vor Stürmen und schweren Seegängen geschützte Meeresraum in der Mitte des Archipels genannt wurde: »la chambre«. Souverän nahm die Bir ihren Weg, manövrierte in harmonischen Bewegungen zwischen den Felsen hindurch und nahm Kurs auf Le Loc’h.
    »Wir werden nicht näher rankommen.«
    Der Kapitän des Polizeibootes, ein junger, hoch aufgeschossener Kerl in einer Hightech-Stoffuniform, die heftig an ihm herumschlackerte, hatte von seinem erhöhten Kapitänsstand heruntergerufen, ohne dabei jemanden anzuschauen. Er war vollkommen auf das Navigieren konzentriert.
    Dupin wurde mulmig zumute. Es waren sicherlich noch hundert Meter bis zur Insel.
    »Springflut. Koeffizient 107.«
    Auch das hatte der hagere Kapitän einfach ins Unbestimmte gerufen. Fragend blickte Kommissar Dupin seinen Inspektor an, nach dem Vorfall mit der großen Welle hatte er sich in die unmittelbare Nähe der anderen begeben und sich nicht mehr vom Fleck gerührt. Riwal beugte sich sehr nah zu Dupin hin, die Motoren waren, obwohl das Boot fast nicht mehr fuhr, immer noch ohrenbetäubend laut.
    »Wir haben zurzeit einen extremen Tidenhub, Monsieur le Commissaire. In den Tagen einer Springflut ist der Wasserstand noch einmal deutlich niedriger als bei einer gewöhnlichen Ebbe. Ich weiß nicht, ob Sie …«
    »Ich weiß, was eine Springflut ist.«
    Dupin hatte hinzufügen wollen »denn ich lebe seit fast vier Jahren in der Bretagne und habe bereits etliche Springfluten und Nippebben erlebt«, aber er wusste, dass es sinnlos war. Zudem musste er zugeben, dass er das mit den Flutkoeffizienten zwar schon sehr, sehr oft erklärt bekommen hatte, es sich aber bis heute nicht richtig hatte merken können. Für Riwal würde er, wie für alle Bretonen, noch nach Jahrzehnten ein »Fremder« sein (was jedoch in keiner Weise böse gemeint war). Noch dazu ein Fremder der für Bretonen schlimmsten Sorte: ein Pariser (was wiederum durchaus böse gemeint sein konnte). Jedes Mal aufs Neue bekam er es vorgebetet: Wenn Mond, Sonne und Erde auf einer Linie liegen und sich dadurch die Schwerkrafteinflüsse addieren …
    Der Motor erstarb jäh, die beiden Kollegen der Wasserschutzpolizei, die, was Dupin erst jetzt auffiel, dem Kapitän auf komische Weise ähnlich sahen, die gleiche drahtige Statur, das gleiche schmale Gesicht, die gleiche Uniform, machten sich umgehend vorn am Bug zu schaffen.
    »Wir kommen nicht näher an die Insel ran. Das Wasser ist zu flach.«
    »Und was heißt das?«
    »Wir müssen hier aussteigen.«
    »Es dauerte ein paar Sekunden, ehe Dupin reagierte.
    »Wir müssen
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