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Brahmsrösi: Fellers zweiter Fall

Brahmsrösi: Fellers zweiter Fall

Titel: Brahmsrösi: Fellers zweiter Fall
Autoren: Stefan Haenni
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Stiefmütterchen in tiefdunklem Violett und leuchtendem Gelb blühen zu Füßen der jugendlichen Schönheit. Bei der Unbekleideten handelt es sich um eine Bronzestatue. Diese wurde zu Ehren und zur Erinnerung an Johannes Brahms an der Seepromenade in Thun aufgestellt, auf der Wiese zwischen Entenegg und Bächimattpark. Heute bezeichnet man die Örtlichkeiten als Brahmsquai und die Plastik als Brahmsrösi. Warum ausgerechnet ein weiblicher Akt an den deutschen Komponisten erinnern soll, bleibt vorerst ein Geheimnis.
    Brahmsrösi hält ihren rechten Arm in der Horizontalen. Die abgewinkelte, offene Handfläche präsentiert sie wie eine Politesse auf der Verkehrsinsel. Angeblich begrüße die Holde den neuen Tag.
    »Hallo, Frischling. Ob’s heute was wird mit uns beiden?«
    Ganz keck, diese Rösi! Wenngleich: Könnte ihre Haltung nicht auch auf verinnerlichtes Lauschen hindeuten? Vermittelt ihr Gesichtsausdruck aufmerksames Zuhören? Jedenfalls wird die stille Besinnlichkeit auf absurde Weise durch den Verkehrslärm der Hofstettenstraße beeinträchtigt. Davon kann ich ein Liedlein singen. Meine Wohnung liegt nur einen Steinwurf von hier entfernt.
    Den linken Arm hebt die Nackte wie ein Modell in einem Werbespott für rasierte Achselhöhlen. Die Hand liegt lässig am Hinterkopf. Zwei apfelförmige Brüste wölben sich mir wie reifes Mostobst entgegen.
    Mit halb geschlossenen Augen und zurückgeneigtem Kopf lächelt Rösi dem Tag entgegen, als käme es ihr nicht wirklich darauf an, was er bringt. Voller Zuversicht, dass sich das Heute als verheißungsvoller Morgen von gestern entpuppt. Sogar der Taubendreck, der über das verzauberte Antlitz rinnt und die ganze Figur von oben bis unten mit weißen Striemen verunstaltet, scheint die Gelassenheit der Schönheit nicht im Geringsten zu beeinträchtigen.
    In Sichtweite und Blickrichtung der Figur steht ein Gotteshaus, das Scherzligkirchlein. Ein Haus zum Scherzen? Ein Kirchlein der Heiterkeit? Liegt Rösis Geste eine sakrale Bedeutung zugrunde? Mir ist ihr Handzeichen schon anderswo aufgefallen. Beim Pontifex maximus. So grüßt der germanische Kondomleugner! Immerhin soll er den Muslimen den Gebrauch der Lümmeltüte ans Herz gelegt haben.
    Jetzt verlässt ein älterer Mann im dunkelblauen, zweiteiligen Anzug den geteerten Spazierweg und überquert den Rasen. Mit gemessenen Schritten nähert er sich den beiden Stadtgärtnern. Er spricht sie an. Die scheinen sich zu wundern. Leider kann ich nicht hören, was geredet wird. Danach greift der distinguierte Herr in die Innentasche seines Anzugs, holt eine dicke Brieftasche hervor und reicht dem Rasenmäher eine Zwanzigernote. Wird hier gedealt? Gleichen im Rentnerparadies am Thunersee die Junkies den pensionierten Bankern?
    Einer abgegriffenen Ledermappe entnimmt der Alte einen weichen Lappen und eine transparente Plastikflasche mit irgendeinem Putzmittel. Beides übergibt er dem Jungen, der umgehend beginnt, damit die Bronzefigur vom Vogeldreck zu befreien.
    Ich wundere mich etwas über diese private Initiative. Was liegt dem sonderbaren Mann an der Brahmsrösi? Andrerseits kann die Öffentlichkeit dankbar sein, dass am Aarelauf ein selbstloser Bürger mit ausgeprägtem Ordnungssinn ein paar Fränkli flüssig macht.

2
    »Lieben Sie Brahms?«
    Mit dieser Frage überrumpelt mich heute Morgen ein gewisser Herr Auf der Maur am Telefon. Noch erstaunter wäre ich nur gewesen, wenn sich Françoise Sagan persönlich aus dem Jenseits gemeldet hätte. Der Anrufer stellt sich als Präsident der Thuner Brahmsgesellschaft vor. Bisher habe ich nichts mit ihm zu tun gehabt. Ich kenne ihn vom Hörensagen: Doktor Moritz Auf der Maur. Er ist meines Wissens mit einem Lehraufrag für Kompositionslehre an der regionalen Musikschule betraut und funktioniert in der hiesigen Kultur- und Musikszene als umtriebiger Initiator. Aber sonst?
    Einerseits möchte ihn nicht enttäuschen. Er lebt vermutlich für das Werk des deutschen Komponisten. Andererseits ist mir schleierhaft, was die ungewöhnliche Erkundigung soll. Seit wann interessiert sich Herr Auf der Maur für meinen persönlichen Musikgeschmack?
    Er unterbricht mein Sinnieren. »Herr Feller. Wären Sie so freundlich, meine Frage zu beantworten?«
    »Ich kenne mich mit Brahms vermutlich zu wenig aus«, versuche ich mich rauszureden.
    Der Doktor steigt nicht darauf ein. »Kann man sich denn der Wirkung seines beglückenden Werks entziehen?«
    Ich betrachte es nicht als meine primäre Aufgabe, den
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