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Boten des Lichts, Die Auserwählten (German Edition)

Boten des Lichts, Die Auserwählten (German Edition)

Titel: Boten des Lichts, Die Auserwählten (German Edition)
Autoren: Víctor Conde
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Es handelte sich um eine aus Japan importierte Mode, die eine ganz bestimmte Art der Kleidung, des Verhaltens, des Einkaufengehens und sogar des Denkens vorschrieb, und die diese Mädchen einfach »Lolita« nannten.
    Peinlich. Man konnte es nicht anders nennen. Velasco ging innerlich die Wände hoch, wenn er die Mädchen sah, die sich wie Püppchen kleideten, mit knielangen Röcken und Rouge auf den Wangen. Er sah sie auf den Gängen der Schule, wo sie sich versammelten, um vor ihren männlichen Mitschülern in der Cafeteria auf und ab zu stolzieren, oder wenn sie an die Tafel vorkamen, um eine Aufgabe zu lösen, und ihre Unmengen von Spitzen erzittern ließen.
    Velasco knirschte mit den Zähnen. Die echten Straftäter hatte er unter Kontrolle. Da wusste er, woher der Wind wehte, und konnte ihnen zuvorkommen und die Polizei rufen, wenn es nötig war. Aber diese Mädchen, die einem Tim-Burton-Film entsprungen zu sein schienen … Wie sollte er sie verstehen? Wie sollte er das Handeln einer Gruppe vorhersehen können, deren Regeln und Motivationen ihm gänzlich fremd waren?
    Wenn es nach ihm ginge, würde er diesen Jugendbanden strikte Grenzen setzen. Seine erste Amtshandlung als künftiger Schulleiter wären ein paar entscheidende Änderungen in der Schulordnung. Und natürlich hätte er dann besonders das Fräulein Svarensko mit ihren feinen Manieren und unkonventionellen Umgangsformen im Visier.
    Leider hatte die Sache einen Haken. Alles hatte immer einen Haken.
    Tanyas Intelligenzquotient entsprach praktisch dem eines Genies. Sie war seine beste Karte, sein einziger Trumpf, den er in der Schlacht der Intellektuellen an diesem Abend ausspielen wollte.
    Velasco hatte nicht gut geschlafen. Die Tränensäcke unter den Augen zeugten von einem langen Kampf gegen die Peinlichkeit, gegen die Angst vor dem Augenblick, in dem die Jury mit ansehen musste, wie eine übergeschnappte Lolita die Bühne betrat, um den krawattentragenden Schülern des gegnerischen Gymnasiums den Preis wegzuschnappen. Wie das exzentrische Mädchen die wohlerzogenen Talente der konkurrierenden Schule gleichsam in Unterwäsche dastehen ließ.
    Beinahe hätte er es vorgezogen, auf den Preis zu verzichten und resigniert in der angenehmen Anonymität zu verharren.
    »Komm, Kleine, tauch endlich auf!«, murmelte er. Er blickte zum achten Mal auf die Uhr, aber die Zeiger hatten sich noch keinen Millimeter weiterbewegt. Die Jugendlichen des gegnerischen Teams hatten sich bereits auf der Bühne des Opernpalastes eingefunden und nahmen in diesen Minuten hinter den in V-Form angeordneten Tischen Platz.
    Der pädagogische Leiter zitterte vor Neid, als er die anderen Teilnehmer sah. Die Jungen trugen einen Anzug, die Mädchen ein ordentliches Kostüm, und alle legten sie ein vorzügliches Benehmen an den Tag … Sie waren genau so, wie man sich ein Wunderkind vorstellte. Bei dem Gedanken, wie sich seine Truppenführerin hier präsentieren würde, gefror ihm das Blut in den Adern.
    »Señorita, so können Sie hier nicht durch! Ihr … was Sie da anhaben, verstößt gegen die Regeln!«
    Die Stimme drang deutlich aus dem Bereich hinter der Bühne. Wahrscheinlich jemand vom Fernsehen (der Wettbewerb wurde von einem unabhängigen Sender ausgestrahlt). Einer Schülerin war es offenbar gelungen, ihn aus der Fassung zu bringen.
    Der pädagogische Leiter schloss die Augen. Es ist so weit, dachte er. Seine schlimmste Befürchtung hatte sich bestätigt. Mutlos ging er nachsehen, was los war. Bei dem folgenden Anblick sank ihm das Herz in die Hose.
    Natürlich war es Tanya. Sie war wie immer zu spät, aber dafür in voller Lolita-Montur gekleidet. Wenn die Aufmachung, mit der sie tagtäglich zum Unterricht erschien, extravagant war, so hatte sie jetzt ihr ganzes Arsenal aufgefahren, und das alles nur, um ihn, Velasco, in den Wahnsinn zu treiben.
    Das Mädchen war von zierlicher Gestalt, knapp einen Meter sechzig groß, aber von einer Aura umgeben, die den meisten ihrer männlichen Altersgenossen unangenehm war. Etwas an ihr war befremdlich, so als wäre sie nicht von dieser Welt. Von ihrer Mutter hatte sie die blauen Augen, aber von ihrem Vater jenen typischen osteuropäischen Blick, der jeden warnte, sie nicht zu unterschätzen.
    Velasco hatte sie im Vorfeld gebeten (Herrgott, angefleht hatte er sie!), sie möge nur ein einziges Mal und als Zeichen des Respekts vor dem Bildungssystem als »anständige« Schülerin auftauchen. Mit einem stinknormalen Hemd, einem Rock
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