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Bombay Smiles

Bombay Smiles

Titel: Bombay Smiles
Autoren: Jaume Sanllorente
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in Indien Konflikte aus Gründen, die gar nichts mit der Religion zu tun haben, und doch wird Religion dafür verantwortlich gemacht. An sich funktioniert das Zusammenleben der Religionen in Indien recht gut,
solange jede für sich sein darf, solange sie nicht miteinander vermischt werden.
    Immer wenn es zu hitzigen Diskussionen über die Religionen kam, versuchte ich zu schlichten und einen Scherz anzubringen, ohne irgendjemanden zu beleidigen natürlich. Wenn meine christliche Sekretärin mir zum Beispiel erzählte, sie würde in der Bibel nach Lösungen für ein Problem im Zusammenhang mit einem aktuellen Projekt suchen, dann bat ich sie, sie solle gleichzeitig auch Leute finden, die zu Allah beteten. Oder zu den zahlreichen hinduistischen Gottheiten. »Und wenn das noch nicht reicht«, pflegte ich zu sagen, »wende ich mich an den Gott, der noch übrig bleibt.«
    Mit den Gehältern, und besonders mit den Sonderzahlungen, war es auch nicht gerade einfach. Den Hindus wurden die Sonderzahlungen zu Diwali, das heißt zwischen Oktober und November, ausgezahlt, den Christen jedoch erst zu Weihnachten. Mit den unterschiedlichen Auszahlungszeiten war Ärger fast schon vorprogrammiert.
    Es erscheint paradox, aber je mehr ich den Religionen misstraute, desto intensiver wurde mein Verhältnis zu Gott. Ich spürte die Existenz Gottes mit immer größerer Gewissheit. Es schien tatsächlich, als trügen meine Erfahrungen, die guten wie die schlechten, dazu bei, dass ich mich immer weiter von den Religionen entfernte, Gott aber zugleich näherkam. Es ist mir nicht möglich, Religionen
zu folgen, wenn sie die Menschheit derart entzweien.
    Ein christlicher Inder fuhr mich einmal an:
    »Wie können Sie denn sagen, Sie respektieren jede Religion, gleich welchen Namens? Ihr Vater hat doch auch nur einen Namen. Und Sie haben nur einen Vater. Wie können Sie dann behaupten, dass Gott mehrere Namen führen kann?«
    »Ich meine«, versuchte ich ihm zu erklären, »dass es einen Gott gibt. Die Menschen haben ihm Namen gegeben. Es ist richtig, dass ich nur einen Vater habe. Aber genauso richtig ist, dass Sie auch einen Vater haben und dieser nicht derselbe wie meiner ist. Das bedeutet aber nicht, dass einer der beiden Väter unsere Liebe nicht verdient hätte.«
    Viele Aspekte dieses Landes lernte ich nach und nach zu verstehen. Andere blieben mir völlig unverständlich, sosehr ich mich auch bemühte, sie zu begreifen. Mir wurde bewusst, dass mein Verhältnis zu Indien dem eines Ehemanns ähnelte, der nie aufhört, in seine Frau verliebt zu sein: Er ist stets bei ihr, mag sie auch, aber bis ins Letzte verstehen kann er sie nie. Genauso geht es mir mit diesem Land. Ich werde Indien bis zu meinem letzten Atemzug lieben - ganz verstehen werde ich es nie. Es wäre vermessen zu glauben, ich könnte als gebürtiger Europäer die Komplexität dieses Landes komplett erfassen.

    In einer Nacht schliefen die Kinder in meinem Haus und ich auf einer Parkbank. Die Nacht unter dem klaren Sternenhimmel zu verbringen und die Kinder in Sicherheit zu wissen, empfand ich als ein Geschenk. Doch ein Schluchzen weckte mich. Auf der Bank neben meiner sah ich die Silhouette eines Mannes, den ich aber bei Mondlicht nicht erkennen konnte.
    »Was ist mit Ihnen?«, fragte ich.
    »Ich bin am Ende, will nur noch sterben …«
    Ich ging zu dem Mann und legte ihm tröstend die Hand auf die Schulter. Er kam mir irgendwie bekannt vor - sicher wohnte er in der Siedlung.
    »Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«, fragte ich.
    »Ich musste die Firma zumachen, ich bin pleite. Meine Tochter ist vor einem Jahr in die USA ausgewandert und hat ihre beiden Kinder bei uns gelassen. Seither kümmere ich mich gemeinsam mit meiner Frau um die Mädchen. Aber jetzt besitzen wir nichts mehr, und ich weiß nicht, wie ich es schaffen soll, meinen Enkelinnen eine Ausbildung zu ermöglichen.«
    Ich sagte ihm, womit ich mich beschäftigte, und erzählte ihm von Schulen, die ich leitete. Ich sagte ihm auch, er solle sich keine Sorgen machen, ich würde alles tun, was in meiner Macht stand, damit seine Enkelinnen weiter zur Schule gehen konnten.
    »Ich weiß, wer Sie sind«, sagte er. »Aber Sie, Sie erkennen mich wahrscheinlich nicht?«

    Auf einmal wusste ich, wen ich da vor mir hatte. Es war jener Mann, der vor ein paar Monaten bei mir geklingelt und mir ins Gesicht gespuckt hatte. Jetzt fiel er vor mir auf die Knie und weinte verzweifelt. Ich half ihm aufzustehen und lächelte ihn an.
    Selbst
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