Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Boeses Mädchen

Boeses Mädchen

Titel: Boeses Mädchen
Autoren: Amélie Nothomb
Vom Netzwerk:
das Kleid über und betrachtete sich. Es paßte ihr gut. Sie drehte sich bewundernd vor dem großen Spiegel.
    »Ich wüßte gern, wie du darin aussiehst.«
    Es kam genauso, wie ich befürchtet hatte: Sie zog das Kleid wieder aus und schmiß es mir hin.
    »Zieh es an!«
    Ich stand da wie vom Donner gerührt.
    »Zieh es an, hab ich gesagt.«
    Ich brachte keinen Ton heraus.
    Christas Augen rundeten sich, als ob sie endlich begriffen hätte.
    »Hast du ein Problem damit, daß ich nackt bin?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Warum ziehst du dich dann nicht aus?«
    Ich schüttelte wieder den Kopf.
    »Klar kannst du. Du mußt.«
    Ich mußte?
    »Los, jetzt mach schon, sei kein Spielverderber! Zieh dich aus!«
    »Nein.«
    Dieses Nein war für mich ein Triumph.
    »Hab ich doch auch!«
    »Ich muß es dir aber nicht nachmachen.«
    »Ich muß es dir aber nicht nachmachen«, äffte sie.
    Hörte ich mich wirklich so grotesk an?
    »Los, Blanche! Wir sind doch unter uns!«
    Ich schwieg.
    »Schau, ich hab doch auch nichts an! Und fühl mich dabei ganz wohl.«
    »Das ist dein Problem.«
    »Du hast ein Problem! Du meinst das jetzt total ernst, oder?«
    Lachend stürzte sie sich auf mich. Ich rollte mich auf dem Klappbett zusammen. Sie zog mir die Schuhe aus, knöpfte mit erstaunlicher Gewandtheit meine Jeans auf und zog sie zusammen mit meinem Slip herunter. Gott sei Dank war mein T-Shirt so lang, daß es mir fast bis zu den Knien ging.
    Ich stieß einen lauten Schrei aus.
    Sie hielt inne und sah mich erstaunt an.
    »Was hast du? Bist du wahnsinnig?«
    Ich zitterte krampfhaft. »Faß mich nicht an!«
    »Okay, dann zieh dich selber aus.«
    »Ich kann nicht.«
    »Wenn du es nicht tust, mach ich’s.«
    »Warum quälst du mich so?«
    »Mach dich doch nicht lächerlich! Was heißt hier quälen? Wir sind doch unter uns.«
    »Warum muß ich mich denn unbedingt ausziehen?«
    »Damit wir gleich sind«, war ihre verblüffende Antwort. Als ob ich ihr gleich sein könnte! Leider fiel mir nichts Passendes dazu ein.
    »Siehst du jetzt ein, daß du mußt?« triumphierte sie.
    Ich gab mich geschlagen. Ich sah keinen Ausweg mehr. Meine Hände umklammerten den unteren Rand des T-Shirts. Doch so sehr ich mich auch bemühte, es gelang mir nicht, ihn hochzuheben.
    »Ich kann nicht.«
    »Ich hab Zeit«, sagte sie und fixierte mich mit spöttischem Blick.
    Ich war sechzehn. Ich hatte nichts, weder materielle Güter noch spirituellen Halt. Keine Freunde, keine Liebe und noch nichts erlebt. Ich hatte keine Ahnung und war mir nicht sicher, ob ich überhaupt eine Seele besaß. Mein Körper war alles, was mir gehörte.
     
    Mit sechs ist es kein Problem, sich auszuziehen. Mit sechsundzwanzig ist es schon zur Gewohnheit geworden.
    Mit sechzehn ist es ein Akt willkürlicher Gewalt. Warum verlangst du das von mir, Christa? Weißt du, was das für mich heißt? Würdest du es verlangen, wenn du es wüßtest? Oder verlangst du es genau deshalb?
    Ich kann nicht begreifen, wieso ich dir gehorche.
     
    Sechzehn Jahre Einsamkeit, Selbsthaß, unaussprechliche Ängste, ewig unerfüllte Wünsche, nutzloses Leiden, zielloser Zorn und ungenutzte Energie – das war mein Körper.
    Körper haben drei Möglichkeiten schön zu sein: durch Kraft, Anmut oder die Vollkommenheit der Formen. Manchen gelingt es wunderbarerweise, alle drei zu vereinen. Mein Körper hatte von allen dreien keinen Hauch. Seine Muttersprache war der Mangel: Ihm fehlten Kraft, Anmut und Vollkommenheit. Er glich einem Schrei des Hungers.
    Immerhin trug dieser Körper, der nie einen Sonnenstrahl gesehen hatte, seinen Namen zu Recht: Blanche. Blaß, schmal wie eine blanke Waffe, nur nicht so scharf – die Schneide war nach innen gerichtet.
     
    »Wird das heute noch was?« fragte Christa, nachlässig auf mein Bett gelümmelt. Sie amüsierte sich prächtig und schien mein Leiden in allen Nuancen auszukosten.
    Um dem ein Ende zu machen, riß ich mir in einer schnellen Bewegung, wie man eine Handgranate abzieht, das T-Shirt vom Leib und schleuderte es zu Boden wie Vercingetorix, wenn er Cäsar sein Wildschwein vor die Füße knallt.
    Alles in mir schrie vor Entsetzen. Nun hatte ich auch noch das Wenige verloren, was ich besaß, das armselige Geheimnis meines Leibes. Ich hatte es buchstäblich zum Opfer gebracht. Und das Schlimmste war, daß dieses Opfer mir vollkommen sinnlos vorkam.
    Christa hob kaum den Kopf. Gelangweilt maß sie mich vom Kopf bis zu den Zehenspitzen. Nur ein Detail fesselte ihre Aufmerksamkeit:
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher