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Böser kleiner Junge (German Edition)

Böser kleiner Junge (German Edition)

Titel: Böser kleiner Junge (German Edition)
Autoren: Stephen King
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lag. Ich lief ebenfalls los. Nach einigen Schritten wandte ich den Kopf. Inzwischen war ich weit genug gelaufen, dass ich hinter den Zürgelstrauch sehen konnte. Da war niemand.
    3
    Hallas verstummte und legte die Hände vors Gesicht. Nach einer Weile nahm er sie wieder herunter.
    »Alles klar, George?«, fragte Bradley.
    »Ich habe bloß Durst. Irgendwie bin ich das viele Reden nicht mehr gewohnt. Im Todestrakt gibt’s nicht groß Anlass zu Unterhaltung.«
    Ich gab McGregor ein Zeichen. Er nahm die Ohrhörer ab und stand auf. »Seid ihr fertig, George?«
    Hallas schüttelte den Kopf. »Die Geschichte geht noch weiter. Es sei denn, Sie wollen den Rest nicht mehr hören.«
    »Mein Klient hätte gerne einen Schluck Wasser, Mr. McGregor«, sagte Bradley. »Wären Sie so nett?«
    McGregor ging zur Sprechanlage neben der Tür zum Überwachungsraum und sprach kurz hinein. Bradley nutzte die Gelegenheit, Hallas zu fragen, wie viele Schüler auf der Mary Day Grammar School gewesen seien.
    Er zuckte die Achseln. »Kleine Stadt, kleine Schule. Erste bis sechste Klasse, insgesamt wohl nicht mehr als hundertfünfzig.«
    Die Tür zum Überwachungsraum öffnete sich, und eine Hand mit einem Pappbecher erschien. McGregor nahm ihn entgegen und brachte ihn Hallas. Der trank gierig und bedankte sich.
    »Keine Ursache«, sagte McGregor. Er ging zurück zu seinem Stuhl, stöpselte die Ohrhörer wieder ein und konzentrierte sich erneut auf das, was auch immer er da hörte.
    »Und dieser Junge – der böse kleine Junge – war rothaarig? So ein richtiger Karottenkopf?«
    »Das können Sie laut sagen. Die Haare haben geleuchtet wie ein Neonschild.«
    »Wenn er auf Ihre Schule gegangen wäre, hätten Sie ihn wiedererkannt.«
    »Genau.«
    »Haben Sie aber nicht. Also war er nicht auf Ihrer Schule.«
    »Genau. Ich habe ihn nie zuvor dort gesehen. Und danach auch nicht.«
    »Und wie ist er an Marlee Jacobs’ Lunchbox gekommen?«
    »Keine Ahnung. Aber ich habe eine viel bessere Gegenfrage.«
    »Und die wäre, George?«
    »Wie konnte er so schnell abhauen? Hinter dem Gebüsch war nichts als eine große Rasenfläche. Er war plötzlich einfach wie vom Erdboden verschluckt.«
    »George?«
    »Ja?«
    »Sind Sie sich sicher, dass da wirklich ein Junge war?«
    »Marlees Lunchbox, Mr. Bradley. Sie lag auf der Straße.«
    Das bezweifle ich auch nicht, dachte Bradley und tippte mit dem Kugelschreiber auf seinen Notizblock. Was aber nicht heißt, dass sie die Box nicht die ganze Zeit über in der Hand gehabt hatte.
    Oder (und das war ein hässlicher Gedanke, aber hässliche Gedanken waren nun einmal unvermeidlich, wenn man den Lügengeschichten eines Kindsmörders lauschte) vielleicht hattest ja du ihre Lunchbox gehabt, George. Vielleicht hast du sie ihr weggenommen und dann auf die Straße geworfen, um sie zu ärgern.
    Bradley sah vom Block auf und bemerkte an der Miene sei nes Klienten, dass dieser seine Gedanken gelesen hatte, als wären sie in Laufschrift auf seiner Stirn eingeblendet gewesen. Er spürte, wie er errötete.
    »Wollen Sie den Rest nun hören? Oder haben Sie sich bereits ein Urteil gebildet?«
    »Ganz und gar nicht«, sagte Bradley. »Fahren Sie fort. Bitte.«
    Hallas trank sein Wasser aus und sprach weiter.
    4
    Fünf Jahre oder länger hatte ich Albträume von diesem bösen kleinen Jungen mit den Karottenhaaren und der Propellermütze. Irgendwann verschwanden diese Träume. Irgendwann schaffte ich es, mir einzureden, was Sie jetzt sicher auch denken, Mr. Bradley: dass es nur ein Unfall war, dass Mrs. Peckhams Gaspedal tatsächlich geklemmt hat, wie es ja manchmal vorkommt, und wenn da wirklich ein Junge gewesen war, der Marlee geärgert hatte … Na ja, so sind Kinder eben, oder nicht?
    Mein Dad beendete das Projekt für die Good Luck Company, und wir zogen in den Osten Kentuckys, wo er im Prinzip dasselbe tat wie in Alabama, nur in größerem Stil. In der Gegend gibt es jedenfalls ziemlich viele Bergwerke. Wir blieben lange genug in einem Städtchen namens Ironville, dass ich dort meinen Highschoolabschluss machen konnte. In meinem zweiten Jahr dort belegte ich aus einer Laune heraus einen Theaterkurs. Das finden Sie jetzt bestimmt ziemlich lustig. Ein kleiner, unscheinbarer Typ wie ich, der seine Brötchen damit verdient, Steuererklärungen für Kleinunternehmer und Witwen auszufüllen, soll in solchen Sachen wie Geschlossene Gesellschaft mitgespielt haben? Das nennt man wohl den Walter-Mitty-Effekt. Aber so war es, und ich war gut.
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