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Böser kleiner Junge (German Edition)

Böser kleiner Junge (German Edition)

Titel: Böser kleiner Junge (German Edition)
Autoren: Stephen King
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Das haben zumindest alle behauptet. Damals überlegte ich mir sogar, die Schauspielerei zum Beruf zu machen. Natürlich würde ich nie eine Hauptrolle bekommen, aber irgendwer muss ja auch den Wirtschaftsberater des Präsidenten oder die rechte Hand des Bösewichts oder den Handwerker spielen, der in den ersten zehn Minuten des Films draufgeht. Ich war davon überzeugt, dass ich solche Rollen meistern konnte, glaubte fest daran, dass ich es schaffen würde. Ich erzählte meinem Dad, dass ich auf dem College Schauspiel studieren wollte. Sehr schön, sagte er, toll, mach nur, aber sieh zu, dass du für alle Fälle ein zweites Standbein hast. Ich schrieb mich an der Pitt ein und belegte Schauspiel im Hauptfach und BWL im Nebenfach.
    Das erste Stück, in dem ich eine Rolle erhielt, war Die Irrtümer einer Nacht, und dabei lernte ich Vicky Abington kennen. Ich gab den Tony Lumpkin, sie die Constance Neville. Sie war ein schönes Mädchen mit blonder Lockenmähne, ziemlich dünn und sehr nervös. Viel zu hübsch für mich, dachte ich, nahm aber irgendwann trotzdem allen Mut zusammen und lud sie auf einen Kaffee ein. So fing es an. Wir saßen stundenlang bei Nordy’s – dem Imbiss im Studentenwerksgebäude –, und sie redete sich ihre Sorgen von der Seele, die hauptsächlich mit ihrer dominanten Mutter zu tun hatten, und sprach über ihre Ambitionen, die sich in erster Linie ums Theater drehten. Sie träumte von einer Karriere als Schauspielerin an einem anspruchsvollen Theater in New York. Dabei hat es solche Dinger zuletzt vielleicht vor fünfundzwanzig Jahren gegeben.
    Ich wusste, dass sie sich im Nordenberg-Gesundheitszentrum Medikamente verschreiben ließ – vielleicht gegen Angstzustände, vielleicht gegen Depressionen, vielleicht auch gegen beides. Aber, dachte ich, das macht sie nur, weil sie ehrgeizig und kreativ ist. Wahrscheinlich schlucken die meisten großen Schauspieler und Schauspielerinnen solche Pillen. Wahrscheinlich nimmt auch Meryl Streep diese Dinger – oder hat sie genommen, bevor sie mit Die durch die Hölle gehen berühmt wurde. Und wissen Sie was? Vicky hatte im Gegensatz zu den meisten schönen Frauen einen tollen Sinn für Humor. Sie konnte über sich selbst lachen, und das tat sie auch häufig. Diese Fähigkeit, sagte sie, sei das Einzige, was sie davor bewahre, den Verstand zu verlieren.
    Wir spielten Nick und Honey in Wer hat Angst vor Virginia Woolf und bekamen bessere Kritiken als die beiden, die die Rolle von George und Martha übernahmen. Danach waren wir mehr als nur Freunde. Wir waren ein Paar. Manchmal knutschten wir in einer dunklen Ecke des Studentenwerks herum. Das endete meist damit, dass sie in Tränen ausbrach und jammerte, sie sei nicht gut genug und würde als Schauspielerin versagen, genau wie es ihre Mutter prophezeit habe. Eines Nachts – nach der Dernierenfeier von Rosen für die Lady in unserem dritten Studienjahr – hatten wir Sex. Das war das einzige Mal. Sie sagte, dass es wunderbar gewesen sei und dass sie es genossen habe, aber ich glaube, das war gelogen. Jedenfalls wollte sie es nicht wiederholen.
    Im Sommer 2000 blieben wir in den Semesterferien auf dem Campus, weil im Frick Park eine Sommeraufführung von The Music Man geplant war. Das war eine große Sache, schließlich würde Mandy Patinkin Regie führen. Vicky und ich sprachen vor. Ich war kein bisschen nervös, weil ich mir keine großen Chancen ausrechnete, doch für Vicky war diese Produktion zum Dreh- und Angelpunkt ihres Lebens geworden. Sie hielt sie für den ersten Schritt auf dem Weg zum Ruhm. Das sagte sie in einem Ton, als würde sie einen Witz machen, obwohl sie es todernst meinte. Wir wurden in Sechsergruppen aufgerufen. Jeder von uns musste eine Karte in der Hand halten, auf der der Name der Figur stand, die wir am liebsten spielen wollten. Vicky zitterte wie Espenlaub, während wir vor dem Proberaum warteten. Ich legte meinen Arm um sie, und sie beruhigte sich – wenn auch nur ein wenig. Sie war so blass, dass ihr Make-up wie eine Maske wirkte.
    Nun, ich will Sie nicht den ganzen Tag vollquatschen, deshalb komme ich direkt zur Sache. Ich ging hinein und gab meine Karte ab, auf der der Name von Bürgermeister Shinn stand – mehr oder weniger eine Nebenrolle. Am Ende ergatterte ich den Part des schlitzohrigen Gauners Harold Hill. Die Hauptrolle. Vicky versuchte es mit Marian Paroo, der Bibliothekarin und Teilzeit-Klavierlehrerin. Das ist die weibliche Hauptrolle. Sie las ganz ordentlich, fand
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