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Böser kleiner Junge (German Edition)

Böser kleiner Junge (German Edition)

Titel: Böser kleiner Junge (German Edition)
Autoren: Stephen King
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School die fünfte und vielleicht auch die sechste Klasse abschließen, aber dann sei das Good-Luck-Projekt beendet und wir müssten weiterziehen. Zurück nach Texas vielleicht oder nach New Mexico; oder rauf nach West Virginia oder Kentucky. Ich fügte mich in mein Schicksal, genau wie Mama Nonie. Mein Dad war der Boss, und er war ein guter Boss, und er liebte uns. Meiner Meinung nach wollte er nur das Beste für uns.
    Der zweite Grund hatte mit Marlee selbst zu tun. Sie war … Na ja, heutzutage würde man sie wohl als »minderbegabt« bezeichnen. Damals sagten die Leute in der Nachbarschaft, sie sei weich in der Birne. Das mag sich nicht besonders taktvoll anhören, Mr. Bradley, doch im Nachhinein glaube ich, dass es eine ziemlich gute Beschreibung war. Fast poetisch. Sie hatte nämlich diesen weichen, ein bisschen verschwommenen Blick auf die Welt. Manchmal – ziemlich oft sogar – kann das durchaus von Vorteil sein. Wieder nur meine Meinung.
    Als wir uns kennenlernten, gingen wir beide in die dritte Klasse, obwohl Marlee schon elf war. Im Jahr darauf sollten wir beide in die Vierte versetzt werden – was in ihrem Fall einfach nur aus der Absicht heraus geschah, sie irgendwie durch das System zu schleusen. So wurde das früher an Orten wie Talbot gemacht. Verstehen Sie mich nicht falsch, sie war nicht etwa der Dorftrottel. Sie konnte ein bisschen lesen und addieren, Subtraktion dagegen überstieg ihren Horizont bereits. Ich habe mit allen Mitteln versucht, es ihr beizubringen. Es war hoffnungslos.
    Wir haben uns zwar nicht in einem Baumhaus geküsst – tatsächlich haben wir uns überhaupt nie geküsst –, aber wir sind morgens immer Händchen haltend zur Schule gegangen und nachmittags wieder nach Hause. Das muss ein ziemlich komischer Anblick gewesen sein, weil ich noch ein Knirps war und sie schon ein richtig großes Mädchen. Sie überragte mich bestimmt um zehn Zentimeter und bekam bereits Brüste. Sie war es, die immer Händchen halten wollte, nicht ich, aber es machte mir nichts aus. Mir war es auch egal, dass sie eine weiche Birne hatte. Früher oder später hätte ich meine Meinung bestimmt geändert, aber ich war erst neun, als sie starb, und in diesem Alter akzeptieren Kinder ja alle möglichen Dinge. Eigentlich ein glückseliger Zustand. Wenn alle weich in der Birne wären, gäbe es dann noch Kriege auf der Welt? Kann ich mir nicht vorstellen.
    Hätten wir eine halbe Meile weiter stadtauswärts gewohnt, wären Marlee und ich mit dem Bus gefahren. Da unsere Häuser höchstens acht Straßen von der Mary Day School entfernt lagen, konnten wir zu Fuß gehen. Mama Nonie gab mir meine Pausenbrottüte und strich mir das Haar glatt. Sei schön brav, Georgie, sagte sie und schickte mich aus dem Haus. Marlee wartete vor ihrer Tür auf mich. Sie hatte Zöpfe und trug üblicherweise einen Rock oder ein Trägerkleid und hielt ihre Lunchbox in der Hand. Ich sehe diese Lunchbox noch heute deutlich vor mir: Steve Austin war darauf abgebildet, der 6-Millionen-Dollar-Mann. Ihre Mutter stand immer neben ihr in der Tür. He, Georgie, sagte sie. Hallo, Mrs. Jacobs, sagte ich. Macht keine Dummheiten, sagte sie. Machen wir nicht, Mama, sagte Marlee, und dann nahm sie meine Hand, und wir marschierten auf dem Bürgersteig davon. Die ersten paar Häuserreihen hatten wir für uns, dann stießen die Kinder aus Rudolph Acres dazu, einem Viertel, in dem damals viele Armeeangehörige wohnten, weil die Mieten billig waren und Fort Huie am Highway 78 nur fünf Meilen nördlich lag.
    Wir müssen schon ziemlich lustig ausgesehen haben – der kleine Stöpsel, Hand in Hand mit der Bohnenstange, die sich die Steve-Austin-Lunchbox gegen das schorfige Knie schlägt –, aber soweit ich mich erinnere, hat uns niemand ausgelacht oder aufgezogen. Das wird schon ab und zu vorgekommen sein, wie Kinder eben so sind, aber wenn, dann war es nicht böse gemeint gewesen. Die meisten Jungs, die wir auf dem Weg trafen, sagten he, George, wie wär’s mit einer Runde Baseball nach der Schule, und die Mädchen sagten he, Marlee, das sind aber hübsche Bänder, die dir deine Mama da in die Haare geflochten hat. Niemand hatte es auf uns abgesehen. Bis der böse kleine Junge auftauchte.
    Eines Tages stand ich vor der Schule und wartete schon eine Ewigkeit auf Marlee. Das kann nicht lange nach meinem neunten Geburtstag gewesen sein, weil ich da schon meinen Bolo Bouncer hatte. Mama Nonie hatte ihn mir geschenkt. Er ging ziemlich bald kaputt – ich
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