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Böse Geister: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Böse Geister: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)

Titel: Böse Geister: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
Autoren: Fjodor M. Dostojewskij
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hingerissen. Sie bildeten zwei gegensätzliche Lager – in dem einen wurde er vergöttert, in dem anderen bis aufs Messer gehaßt; aber hingerissen waren die einen wie die anderen. Den einen gefiel es, daß er vielleicht in seinem Herzen ein tragisches Geheimnis verschloß; den anderen gefiel es ausgesprochen, daß er ein Mörder war. Des weiteren stellte sich heraus, daß er ziemlich gebildet war und sogar über gewisse Kenntnisse verfügte. Es bedurfte freilich keiner tiefen Kenntnisse, um uns in Erstaunen zu versetzen, aber er war imstande, auch über die gegenwärtigen, höchst interessanten Themen zu reden, und zwar, was besonders schätzenswert war, außerordentlich vernünftig. Ich erwähne es, als Curiosum: Fast vom ersten Tag an befanden bei uns alle, daß er ein außerordentlich vernünftiger Mensch sei. Er war nicht sonderlich gesprächig, elegant ohne Affektation, erstaunlich bescheiden, dabei ungezwungen und selbstbewußt wie sonst niemand bei uns. Unsere elégants musterten ihn mit Neid und wurden von ihm vollständig in den Schatten gestellt. Auch sein Gesicht überraschte mich: Sein Haar war gar zu schwarz, seine hellen Augen gar zu ruhig und klar, der Teint gar zu zart und weiß, das Rot der Wangen gar zu stark und rein, Zähne wie Perlen, Lippen wie Korallen – man sollte meinen, er war ein Bild von einem Mann, aber gleichzeitig irgendwie abstoßend. Man sagte, sein Gesicht erinnere an eine Maske, übrigens wurde damals vieles gesagt, unter anderem über seine ungewöhnlichen Körperkräfte. Man konnte ihn hochgewachsen nennen. Warwara Petrowna betrachtete ihn mit Stolz, aber auch mit ständiger Unruhe. Er lebte bei uns etwa ein halbes Jahr, träge, still, ziemlich düster; er zeigte sich auch in der Gesellschaft und beobachtete unbeirrt und aufmerksam die in unserer Gouvernementsstadt übliche Etikette. Mit dem Gouverneur war er väterlicherseits verwandt und wurde in dessen Haus wie ein naher Verwandter aufgenommen. Aber einige Monate vergingen, und plötzlich zeigte das Raubtier seine Krallen.
    Ich bemerke bei dieser Gelegenheit en parenthèse, daß unser liebenswerter, milder Iwan Ossipowitsch, unser ehemaliger Gouverneur, eine gewissen Ähnlichkeit mit einem alten Weibe, aber einen guten Namen und gute Beziehungen besaß – wodurch es sich auch erklärt, daß er bei uns so viele Jahre sein Amt versah, obwohl er jede Arbeit weit von sich wies. Mit seiner Gastfreundlichkeit und Großzügigkeit hätte er sich viel eher zu einem Adelsmarschall in der guten alten Zeit geeignet als zum Gouverneur in einer so mühseligen Zeit wie der unsrigen. In der Stadt hieß es immer wieder, das Gouvernement werde nicht von ihm, sondern von Warwara Petrowna verwaltet. Natürlich war das eine bissige Bemerkung und entsprach doch nicht der Wahrheit. Überhaupt wurde auf dieses Thema nicht gerade wenig Witz verschwendet. Im Gegenteil, Warwara Petrowna hatte, namentlich in den letzten Jahren, ungeachtet der außerordentlichen Hochschätzung, die ihr von der ganzen Gesellschaft entgegengebracht wurde, geflissentlich und bewußt auf jegliche höhere Bestrebung verzichtet und sich freiwillig hinter selbstgesteckte Grenzen zurückgezogen. Statt jeglicher höheren Bestrebungen hatte sie sich der Verwaltung ihrer Güter gewidmet und nach zwei, drei Jahren beinahe denselben Ertrag erwirtschaftet wie früher. Statt der einstigen poetischen Anwandlungen (die Reise nach Petersburg, die Absicht, eine Zeitschrift herauszugeben und so weiter) begann sie zu sparen und zu knausern. Sie distanzierte sich sogar von Stepan Trofimowitsch, indem sie ihm erlaubte, eine Wohnung in einem anderen Haus zu mieten (er hatte sie schon längst unter den verschiedensten Vorwänden darum gebeten). Nach und nach ging Stepan Trofimowitsch dazu über, sie eine prosaische Frau oder, noch launiger, seine »prosaische Freundin« zu nennen. Selbstverständlich gestattete er sich solche Scherze nur auf die respektvollste Art und Weise und nachdem er lange auf einen geeigneten Augenblick gewartet hatte.
    Wir alle, die Nahestehenden – und Stepan Trofimowitsch besser als wir alle –, verstanden, daß der Sohn ihr jetzt als eine Art neuer Hoffnung und sogar eine Art neuen Traumes erschien. Die Leidenschaft für ihren Sohn hatte in der Zeit seiner Erfolge in der Petersburger Gesellschaft begonnen und nahm besonders seit jenem Augenblick zu, als die Nachricht von seiner Degradierung zum Gemeinen eingetroffen war. Zugleich fürchtete sie sich ganz
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