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Bob, der Streuner

Bob, der Streuner

Titel: Bob, der Streuner
Autoren: James Bowen
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aus dem Wagen und winkte ihr kurz zu. Wir dachten beide, es wäre nur ein Abschied für sechs Monate. So war es vereinbart. Ich würde anfangs bei meiner Halbschwester wohnen und versuchen, meinen großen Traum zu verwirklichen: eine Karriere als Musiker. Aber mein Plan ging nicht auf.
    Zuerst kam ich, wie besprochen, bei meiner Halbschwester unter, die im Süden von London wohnte. Mein Schwager war nicht begeistert von mir als neuem Mitbewohner. Ich war immer noch der aufmüpfige Teenager, sah aus wie ein Goth , benahm mich unmöglich und leistete auch keinen finanziellen Beitrag zum Lebensunterhalt in meiner Gastfamilie.
    In Australien war ich als Handyverkäufer in der IT -Branche tätig gewesen, aber in England fand ich keinen guten Job. Kurz nach meiner Ankunft durfte ich mich als Kellner in einer Bar versuchen, aber da passte ich nicht wirklich hinein. Über die Weihnachtsfeiertage 1997 schuftete ich als Vertretung für alle Mitarbeiter, die frei haben wollten. Kaum waren die Feiertage um, wurde ich entlassen. Das war schon schlimm genug, aber der Chef beschuldigte mich in einem Brief ans Arbeitsamt auch noch, selbst gekündigt zu haben. Das hatte zur Folge, dass ich kein Anrecht auf Arbeitslosengeld hatte, was mir als geborenem Engländer sonst zugestanden hätte.
    Nach diesem Rauswurf war ich im Haus meines Schwagers gar nicht mehr willkommen; er und meine Halbschwester setzten mich einfach vor die Tür. Ich hatte zwar noch Kontakt zu meinem Vater, aber als Übergangslösung für mein Wohnungsproblem kam er nicht in Frage. Obwohl wir uns ein paar Mal getroffen hatten, waren wir uns fremd. Ich konnte mir nicht vorstellen, mit ihm unter einem Dach zu wohnen. Also zog ich von einem Bekannten zum nächsten. Ich schlief auf Sofas, Matratzen und Fußböden. Meinen Schlafsack hatte ich immer dabei und zog wie ein Nomade durch fremde Wohnungen und Häuser. Als mir zuletzt auch die Fußböden von Bekannten ausgingen, blieben mir nur noch die Straßen von London. Ich hatte nicht bemerkt, dass ich mich bereits im Sturzflug befand. Erst als ich auf der Straße aufschlug, stand ich fassungslos vor den Scherben meiner Träume.
    Das Leben auf der Straße raubt dir deine Würde, deine Persönlichkeit und … eigentlich alles. Du existierst nicht mehr, für nichts und niemanden. Als Obdachloser bist du unsichtbar für deine Mitmenschen. Das fand ich am schlimmsten. Niemand will etwas mit einem Penner zu tun haben. Wenn du auf der Straße landest, hast du keinen einzigen Freund mehr auf der Welt. Trotzdem habe ich es in dieser Zeit einmal geschafft, einen Job als Küchenhilfe zu ergattern. Sie waren zufrieden mit meiner Arbeit, aber als herauskam, dass ich keine Adresse angeben konnte, wurde ich gefeuert. Als Obdachloser kannst du dich auch nicht wehren.
    Meine letzte Rettung wäre die Rückkehr nach Australien gewesen; immerhin hatte ich ein Rückflugticket. Aber zwei Wochen vor dem Abflug verlor ich meinen Pass. Ich hatte keine Papiere mehr und kein Geld für neue. Damit hatte sich meine Hoffnung auf eine Rückkehr zu meiner Familie in Australien in Luft aufgelöst. Sie verschwand in den grauen Nebelschwaden Londons, genau wie ich.
    An die Zeit danach erinnere ich mich nur noch schemenhaft. Ich habe mich mit Alkohol und Drogen betäubt und irgendwie mit Kleinkriminalität über Wasser gehalten. Heroin wurde mein vermeintlicher Lebensretter.
    Zuerst nahm ich es, um nachts auf der Straße schlafen zu können. Es vertrieb die Einsamkeit und die Kälte. Es nahm mich mit an einen besseren Ort. Aber leider hat es mir auch die Seele geraubt. 1998 war ich süchtig. Wahrscheinlich bin ich mehrmals nur knapp dem Tod entronnen, aber um die Wahrheit zu sagen, ich war immer so weggetreten, dass mir selbst das nicht aufgefallen wäre.
    In all diesen schrecklichen Tagen, Wochen und Monaten habe ich nie daran gedacht, mich bei meiner Familie zu melden oder sie gar um Hilfe zu bitten. Ich war verschwunden, und es kümmerte mich einen Dreck. Jegliche Energie, die ich noch aufbringen konnte, steckte ich in den täglichen Kampf ums nackte Überleben. Heute kann ich nachvollziehen, was ich meiner Familie durch mein Verschwinden angetan habe. Meine Mutter wäre fast durchgedreht. Sie hatte mich als vermisst gemeldet.
    Einen kleinen Eindruck von dem Schmerz, den ich meiner Familie zugefügt hatte, bekam ich, als ich etwa neun Monate nach meinem Verschwinden bei meinem Vater anrief. Seit meiner Ankunft in London war ein Jahr vergangen, und es war
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