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Blutsbrüder: Ein Berliner Cliquenroman (German Edition)

Blutsbrüder: Ein Berliner Cliquenroman (German Edition)

Titel: Blutsbrüder: Ein Berliner Cliquenroman (German Edition)
Autoren: Ernst Haffner
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keine Beachtung gefunden haben. Bei Haffner erfährt der Leser – insbesondere dieser Eindruck bleibt haften – wohl aus erster Hand, wie es unzähligen Jugendlichen erging, die zwischen den beiden Weltkriegen in Würde zu überleben versuchten, nur um dann womöglich abermals zum Opfer zu werden: der Willkür des Unrechtsstaates, die ab 1933 in Deutschland wütete, anheimfallend oder auf den Schlachtfeldern des folgenden Krieges ihr Leben lassend. Aber vielleicht, es bleibt im Dunkeln, verdingten sich auch viele dieser jungen Menschen willfährig dem neuen System. Man weiß es nicht, und vermutlich gab es das eine Schicksal ebenso wie das andere.
    Das Verdienst dieses Buches liegt darin, diesen Menschen Aufmerksamkeit und Anteilnahme zu schenken und ihre Geschichte, wenn auch fiktionalisiert, in einer Weise zu erzählen, die bis heute berührt. Das ist der eigentliche Grund für die nochmalige Veröffentlichung. Ich verlege dieses Buch, weil mich seine Lektüre unmittelbar begeistert hat, nachdem einer meiner Autoren, Helmut Wietz, mich auf dieses Buch hinwies und es mir zu lesen gab. So sehr hat es mich begeistert, dass ich, und das ist die schönste Aufgabe eines Verlegers, auch anderen dieses erstaunliche Buch zugänglich machen möchte, um nicht zu sagen: muß.
    Nicht zuletzt ist Haffners Roman auch ein Roman, der uns etwas über unsere Gegenwart erzählt. Die Krise, vor allem in Südeuropa, hat längst unaufhaltsam begonnen, in den Alltag der Menschen einzugreifen, die Lebensentwürfejunger Menschen zu bestimmen. Die hohe Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist nur ein Indiz für eine soziale Wirklichkeit, die stetig hoffnungsloser und bedrohlicher wird. Von den Lebensumständen, die Haffner beschreibt, mögen wir – zum Glück – noch ein gutes Stück weit entfernt sein. Dennoch ist dieser Roman, wenn man ihn heute liest, ein sehr zeitgemäßes und zugleich menschliches Plädoyer, den Blick auf das Schicksal des Einzelnen zu werfen, statt sich jener allgemeinen Angst zu ergeben, die überall spürbar ist und beinahe zwangsläufig die Herzen verengt. Das macht seine Lektüre für mich so wichtig.

    Peter Graf, Berlin im Sommer 2013



Winzige Glieder einer sich durch den langen Industriehof und zwei Etagen windenden müden Menschenschlange stehen die acht Jungen der Clique Blutsbrüder und warten gleich den hundert anderen darauf, endlich aus der furchtbaren Naßkälte in die warmen Wartesäle gelassen zu werden. Drei, vier Minuten wird es noch dauern. Dann, acht Uhr pünktlichst, wird in der zweiten Etage die schwere Eisentür geöffnet. Das Bezirkswohlfahrtsamt Berlin-Mitte in der Chausseestraße hat den ersten Ruck zur Ingangsetzung seines bürokratisch komplizierten Betriebes getan. Der Ruck pflanzt sich vielfach gewunden in der Menschenschlange fort. Die Glieder rücken auf, scharren mit den Füssen, halten in den Händen die unzähligen notwendigen Papiere. Zuvorkommend hat man amtlicherseits einen gedruckten Leitfaden herausgegeben, der in endloser Kolonne die nötigen Papiere aufzählt und an welchen vierundzwanzig Stadtzipfeln man solche ausgestellt bekommt.
    Die Schlange hat bereits den riesigen Kassenwarteraum erreicht. Aus der Schlange bilden sich flugs zwei Schlänglein, militärisch exakt organisiert. Das eine Schlänglein wartet geduldig, bis das heisere Amtsfaktotum Paule ihm die Stempelkarten zur Vorbereitung der Auszahlungen abnimmt. Schlänglein Nummer zwei windet sich vor den Auskunftsschalter, um hier nach Beantwortung der Woher- und Wohinfragen eine Pappnummer zu erhalten. Dann stieben die einzelnen Glieder in zwei andere Säle vor die Türen der Herren Expedienten, um hier lammsgeduldig den Aufruf der Nummerzu erwarten. Die Lammsgeduld muß gut und gern fünf, sechs Stunden vorhalten. Die acht Cliquenjungen schließen sich weder dem einen noch dem anderen Schlänglein an, sondern flitzen schleunigst in die Ewige Hilfe . Vielleicht ist noch eine Bank zu ergattern.
    Wartesaal der Ewige Hilfe. In den dazugehörigen Büros werden die Anträge auf Gewährung der Erwerbslosenhilfe gestellt. Die amtliche Abkürzung „E. H.“ hat eine bissige Schnoddrigkeit in Ewige Hilfe umgedeutet. Bereits jetzt, eine halbe Stunde nach Öffnung, ist der große Saal überfüllt. Die wenigen Bänke sind bis auf das letzte Plätzchen besetzt. Die keinen Sitzplatz mehr fanden, stehen im Gang herum oder lehnen sich an die beiden Längswände, die von abertausenden anlehnenden
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