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Blutsbrüder: Ein Berliner Cliquenroman (German Edition)

Blutsbrüder: Ein Berliner Cliquenroman (German Edition)

Titel: Blutsbrüder: Ein Berliner Cliquenroman (German Edition)
Autoren: Ernst Haffner
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Menschenrücken scheußliche, fettigschwarze Flecken bekommen haben. Ein unsäglich trostloses Licht des grauen Tages mischt sich mit dem Schein der schwachen elektrischen Birne und schafft so ein Zwitterlicht, in dem die Gesichter der Wartenden noch elender, noch verhungerter erscheinen. Hinter den beiden Querwänden sind die hellen sauberen Büroräume. Obwohl man in den Wänden auch Türen nicht vergessen hat, hat man noch extra je ein viereckiges Loch — Größe Beamtenkopf der unteren Gehaltstufen — in die Wände gestemmt. Unmittelbar neben den Türen. Um jede unnötige Berührung mit dem wartenden Plebs zu vermeiden, rufen die Beamten die Nummern nicht durch die Türen. Nein: die Klappe wird aufgerissen, fein gerahmt erscheint ein Mannskopf und brüllt die Nummer aus. Dann fliegt die Klappe schleunigst wieder zu. Dieaufgerufene Nummer — erst im Büro stellt sich heraus, daß sie Meyer Gustav oder Abrameit, Frieda heißt — trottet durch die Tür neben der Klappe ins Büro. Bei jedem Aufruf der Nummer fliegen die Köpfe der Wartenden hoch. Zuweilen kommt es vor, daß sich an den beiden Wänden zugleich die Klappen öffnen. Dann fliegen — ruck — alle Köpfe hoch, — zuck — alle Köpfe nach hinten.
    Die acht Jungen haben noch eine ganze Bank ergattern können, kümmern sich um keinen Aufruf und schlafen, dösen vor sich hin. Sie waren die ganze, endlose Winternacht auf der Straße. Wie schon so häufig: obdachlos. Immer getippelt, immer in Bewegung. Ausruhen war nicht bei dem Wetter. Tagealter Schneematsch, ab und zu ein dünner Strippenregen, alles fein gemixt durch einen Wind, der die Münder der Jungen vor durchdringender Kälte wie Entenschnäbel schnattern ließ. Acht Jungens, sechzehn bis neunzehn Jahre alt. Einige sind aus der Fürsorgeanstalt geflüchtet. Zwei haben noch Eltern irgendwo in Deutschland. Der eine oder andere noch Vater oder Mutter. Ihre Geburt, ihre früheste Jugend fiel in die Zeit des Krieges und Nachkrieges. Schon als sie ihre ersten o-beinigen Gehversuche machten, waren sie sich selbst überlassen. Vater war im Krieg oder stand bereits auf der Verlustliste. Und Mutter drehte Granaten oder hustete ihre Lungen in den Pulver- und Sprengstoffabriken zentigrammweise aus. Die kohlrübenbauchigen Kinder — nicht einmal mehr kartoffelbäuchig waren sie — luchsten in Höfen und auf den Straßen nach Eßbarem. Wuchsen sie heran, gingen sie rudelweise aufRaub aus. Raub, um die Bäuche zu füllen. Bösartige, kleine Raubtiere.
    Der Dortmunder Ludwig ist beim Ruf einer Nummer wach geworden. Jetzt sitzt er da, Beine von sich gestreckt, Fäuste in den Taschen, im Mundwinkel eine leere Zigarettenspitze. Das schmale verhungerte Jungensgesicht mit den flinken braunen Augen guckt interessiert auf den Saaleingang. Die Kameraden schlafen, vornübergebeugt, zusammengesunken oder sich kraftlos an den Nachbarn lehnend. Jonny, ihr Anführer, ihr Bulle , hat sie zu neun Uhr hierherbestellt. Er wollte, wie so häufig, Geld auftreiben. Wie er das macht, verrät er nicht. Gestern abend gegen zehn Uhr verabschiedete er sich von den Kameraden. — Ludwig sieht Jonny in den Saal kommen und winkt aufgeregt. „Hier, Jonny, hier!“ Jonny ist ein junger Mensch von einundzwanzig Jahren. Das starke Kinn, die hervorspringenden Backenknochen wirken etwas brutal, zeugen wenigstens von Willenskraft. Seine Rede ist klug und wohlgesetzt, fast dialektfrei und beweist, daß er jeden der Clique geistig überragt. Überlegene Körperkraft ist selbstverständlich, sonst wäre er nicht Bulle. „Morgen, Ludwig!“ Er reicht ihm eine große Schachtel Zigaretten. Sehnsüchtig, gierig bedient Ludwig sich und kaut wollüstig den entbehrten Rauch. Die Kameraden schlafen noch immer. Ludwig nimmt einen tiefen Zug und pafft die Jungens an. Sie schlucken, husten, wachen auf. Kein anderes Mittel hätte sie schneller wecken können. Zigaretten? Jonny, hallo! Schnell bedient sich jeder. Und jetzt weiß man auch, daß Jonny Geldhat, daß sie endlich mal wieder zu essen bekommen. Also los. Wie immer, gehen sie getrennt, in drei Gruppen. Neun Jungens zusammen erregt unliebsames Aufsehen. Sie biegen von der Chaussee- in die Invalidenstraße ein. Hier wird das Frühstück eingekauft. Fünfundvierzig Schrippen in drei mächtigen Tüten und zwei ganze Zwiebelleberwürste. Das wird reichen für neun Mann.
    Rosenthaler Platz, Mulackstraße, dann in die Rückerstraße. Hinein in die Stammkneipe aller Cliquen rund um den Alexanderplatz, in
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