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Blutrotes Wasser

Blutrotes Wasser

Titel: Blutrotes Wasser
Autoren: Jonas Torsten Krueger
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Mutter war klüger gewesen als Doktor Anday und überquerte die Donau auf der Kettenbrücke. Das bedeutete zwar einen gewaltigen Umweg, aber die Drängelei auf der Margaretenbrücke hätte sie jetzt nicht überstanden. Auch die Kettenbrücke war für den Verkehr gesperrt und die Menschen spazierten mit freudestrahlenden Gesichtern in die anbrechende Abenddämmerung hinein. Bis zur Explosion.
    Voller Entsetzen starrte sie zum Parlament, das sich wie immer in seiner märchenhaften Pracht und verschnörkelten Schönheit im Wasser der Donau spiegelte. Eine Staubwolke türmte sich am nördlichen Seitentrakt auf, Mauern bröckelten, der ganze mächtige Bau schien zu zittern. Dann rutschte ein ganzer Teil weg, klappte zusammen wie ein Kartenhaus, aber nein, die Spielkarten standen noch, nur ein, zwei Blätter am Rand waren gestürzt, nur ein kleiner Teil der Fassade abgesprungen. Das Parlament lebte noch.
    Aber die Schreie der Menschen hörte Lázlos Mutter bis hierher.
    19.05 Uhr, vor dem Parlament
    Lena hörte ein gewaltiges Krachen, spürte eine Druckwelle und merkte dann, wie Imre Rutschek sie nach hinten zerrte. Dort gab es eine kleine Treppe, die zur Tribüne hinaufführte. Chaos und Schreie regierten die Straße, Panik breitete sich in Wellen aus, alles rannte und flüchtete. Aber immer noch spürte Lena die Klinge an ihrer Kehle.
    »Verrat«, hörte sie den alten Geiger murmeln. »Das Parlament muss brennen!«
    »Warum, Imre?«, ächzte Lena auf.
    »Warum?« Der Musiker lachte gequält auf. »Weil irgendwann, meine Liebe, noch nicht einmal meine Geige mich trösten konnte. Weil ich gelitten habe wie ein Tier, und nicht nur ich, sondern meine ganze Familie. Was glaubst du, wie viele Menschen gestorben sind in Budapest. Das alles muss ein Ende haben.«
    Er zerrte Lena einfach mitten durch das Chaos. Niemand schien sich an einem Kostümierten mit Krone auf dem Kopf zu stören, der ein Mädchen hinter sich herzerrte und mit einem Messer bedrohte. Schritt für Schritt näherten sie sich der Margaretenbrücke. Hatte der Verrückte ein Fluchtboot hier liegen?
    »Und dafür müssen Menschen sterben?«, hustete Lena.
    »Ich fürchte, das verstehst du nicht.«
    »Ach, aber vielleicht verstehst du ja das hier!« Sie warf sich einfach in ihn hinein. Lena versuchte nicht, unter dem Messer wegzutauchen oder sich aus dem Griff herauszuwinden. Sie stemmte sich vom Boden ab und drückte sich noch näher an Imre, drehte sich blitzschnell, umarmte ihn fast, sah seine Augen müde unter der Silbermaske aufblitzen und rammte ihm dann ihr Knie zwischen die Beine. Wenn sie schon in einem Actionfilm à la Hollywood gelandet war, dann wenigstens richtig.
    Aber Film war eben Film. Wie erhofft zuckte Imre Rutschek zusammen und ließ sie los, behielt das Messer aber fest in der Hand und schwang es gegen Lena. Erwischte sie am Bein. Schmerz. Ein tiefer Schnitt. Blut.
    »Es tut mir leid, Lena«, flüsterte der Geiger. »Wirklich.«
    Wieder hob er das Messer.
    Und dann war Lázlo da, rammte mit dem Kopf voran wie ein wütender Stier den Mann, den er als Holló kennen- und lieben gelernt hatte. Diesmal verlor Imre das Messer, taumelte zur Seite und stöhnte. Dann wendete er sich dem erneut anstürmenden Lázlo zu und schmetterte ihm eine Ohrfeige entgegen. Lázlo schrie auf und brach zusammen. Rutschek hielt sich nicht mit ihm auf, tastete nach der Krone, die immer noch fest auf seinem Kopf saß, und rannte auf die Margaretenbrücke zu. Lázlo rappelte sich auf, schaute wie wild zwischen der sich krümmenden Lena und dem flüchtenden Raben hin und her.
    Er drehte sich zu ihr. Schob sein Gesicht vor ihres – nie hatte sie etwas Schöneres gesehen.
    »Alles okay?«, fragte er.
    »Nicht so richtig.« Lena grinste schief. »Mein Bein, ich kann nicht auftreten.«
    Lázlo zerrte sich sein T-Shirt über die Schultern und wickelte es um die Wunde. »Ob das die Blutung stoppt?«, fragte er nervös. »Du musst ins Krankenhaus. Wir müssen …«
    »Lázlo«, unterbrach sie ihn.
    »Was?«
    »Schnapp ihn dir.«
    Hollywood eben.
    19.22 Uhr, vor dem Parlament
    Frenyczek träumte von seiner Großmutter. Die hatte ihm immer frische Äpfel zugesteckt, frisch und so saftig, dass die Flüssigkeit beim Hineinbeißen wundervoll spritzte. Und das Brot! Selbst gebacken, warm und duftend. Nur selten hatte sie ihn angebrüllt, so wie jetzt.
    »Mach keine Dummheiten, Jungchen! Los, komm wieder hoch! … Na – dann entschuldige das jetzt!«
    Der Kommissar schlug die Augen
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