Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Blutköder

Blutköder

Titel: Blutköder
Autoren: Nevada Barr
Vom Netzwerk:
hatte geschrien? Hatte die Kugel Rory in der Dunkelheit aufgespürt? Anna brauchte keinen ganzen Atemzug, um festzustellen, dass sie nicht verletzt war. Auf der Flucht in den Wald hatte ihr Knie nachgegeben.
    »Nein!«
    Das war Joan. Anna rollte sich herum. In diesem Moment sauste der Kolben von McCaskils Gewehr auf sie herunter. Allerdings scheiterte der beabsichtigte Schlag auf den Hinterkopf, mit dem er sie hatte töten wollen, und glitt an der Schulter ab, sodass Anna aufschrie.
    McCaskil hatte die Taschenlampe weggeworfen. Der Strahl verlief parallel zum Boden und beleuchtete die Stiefel des Mannes. Anna verlagerte das Gewicht auf die linke Hüfte und trat zu. Die Sohle ihres Stiefels prallte gegen McCaskils Knöchel. Ein scharfer Schmerz schoss ihr durch das verletzte Bein, doch sie spürte ihn kaum. McCaskil sank auf ein Knie.
    Zielstrebig wie eine Klapperschlange kroch Anna über die rutschige Schicht aus Nadeln und trat ihn noch einmal, diesmal gegen das Schienbein. Begleitet von wütendem Gebrüll, kippte McCaskil auf Hinterteil und Fersen. Die Zeit reichte nicht, um sich aufzurichten. Da Anna wusste, dass sie in den Beinen mehr Kraft hatte als im Oberkörper, stürzte sie sich auf ihn. Wie eine Krabbe, Schlange, ein Skorpion oder ein anderes kleines niedriges Tier hoffte sie, schnell und bösartig genug zuschlagen zu können, um noch einen weiteren Tag zu überleben.
    McCaskil wich zurück. Als er gegen die am Boden liegende Taschenlampe stieß, drehte sich der Lichtkegel wie ein betrunkener Leuchtturm und hielt dann inne, sodass er ihn und Anna beleuchtete. McCaskil hatte das 38er, ein Weatherby, wie Anna aus reiner Gewohnheit feststellte, an die Schulter gehoben. Der Lauf zielte, zwischen seinen Knien hindurch und vorbei an seinen Stiefelspitzen, auf ihr Gesicht. Nicht einmal ein Verrückter würde auf diese Entfernung danebenschießen.
    »Immer mit der Ruhe, Bill. Alles ist gut, Bill. Damit kommen Sie nicht durch, Bill. Rory ist weg. Ein Zeuge. Sie können es nicht tun, Bill. Geben Sie auf, Bill.«
    Joan redete langsam und beruhigend, als hätte sie es mit einem verwundeten wilden Tier zu tun. Sie verhielt sich genau richtig, wählte die passenden Worte, sprach den Mann beim Namen an und versuchte zu erreichen, dass er wieder zu sich kam.
    Es war zu spät. Das so schwer zu beschreibende innere Leuchten, das sich in den Augen zeigt und auf geistige Gesundheit hinweist, war in Bill McCaskil erloschen. Die Taschenlampe zeichnete Schatten auf sein Gesicht und verwandelte seine Nase in einen Berg, der eine Hälfte seines Gesichts gegen die Ersatzsonne abschirmte. Seine lange, wohlgeformte Oberlippe, die Haut dunkel wegen der eine Woche alten Bartstoppeln, verzerrte sich und gab weiß schimmernde Raubtierzähne frei. Diese kleine mimische Veränderung sorgte dafür, dass McCaskils Gesicht unmenschliche Züge annahm. Anna wusste, dass er sie töten würde. Da sie sich nicht von Bill McCaskils Fratze in die Ewigkeit begleiten lassen wollte, wandte sie den Kopf und sah Joan Rand an.
    Ein Brüllen erschütterte die Szene. Es war so nah und so ohrenbetäubend, als hätten sich die wilde Wut der Welt und des Verstandes zu einem düsteren und grausigen Geräusch zusammengeballt. Die Nacht selbst schien sich gegen sie gewendet zu haben. Darunter mischten sich schreckliche Schreie und die hilflosen Geräusche eines David, der von einem Goliath aus Fell und Hass zerrissen wurde.
    »Rory!«, rief Joan.
    Als McCaskil einen Satz machte, schob sich der Gewehrlauf ein Stück zur Seite. Anna griff danach und trat McCaskil gleichzeitig gegen das Knie. Vom Bärengebrüll seiner Kräfte beraubt, ließ McCaskil los. Anna entwand die Waffe seinen gefühllosen Fingern, schleppte sie hinter sich her und trat in einem ziemlich würdelosen Vierfüßlergang den notwendigen Rückzug an. Nahkampf war nichts für zierlich gebaute Menschen.
    Das schreckliche Brüllen wurde lauter. Anna ertappte sich dabei, dass sie sich, das Gewehr quer auf dem Schoß, zusammenkauerte wie ein verängstigter Hinterwäldler. Sie atmete tief durch, um die Panik zu vertreiben, zwang sich zum Aufstehen und stützte sich mit dem Rücken gegen den Baum, um mit dem Zittern aufzuhören und ihr verletztes Knie zu schonen. McCaskil unternahm keine Anstalten, sich aufzurappeln, zu fliehen, seinen Mordversuch an Anna zu vollenden oder sie zum Schießen zu provozieren.
    Das Gebrüll dauerte immer weiter an und heftete McCaskil an den Boden, Anna an den Baum und Joan an
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher