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Blut und rote Seide

Blut und rote Seide

Titel: Blut und rote Seide
Autoren: Qiu Xiaolong
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Zeugenstand trat, ließ er den Blick erst einmal über die Zuschauer schweifen. Dabei bemerkte er Chen in einer der hinteren Reihen, nickte ihm unmerklich zu und nahm dann einen Schluck Wasser aus seiner Plastikflasche. Er wirkte selbstsicher und von seiner Sache überzeugt; sein Gesicht hatte eine eigenartige Transparenz angenommen, man hatte fast den Eindruck, eine andere Persönlichkeit spräche aus ihm.
    Vielleicht lag das aber auch nur an dem durch die Glasfenster hereinströmenden Morgenlicht, überlegte Chen.
    »Wenn man das Plädoyer meines geschätzten Kollegen hört, könnte man meinen, das Urteil in diesem Prozeß stünde bereits fest«, begann Jia. »Peng wird für seine Mißwirtschaft bestraft, und die Bewohner von Block Neun West erhalten ihre Entschädigung. Ich sehe schon die Schlagzeilen vor mir: ›Stadtregierung setzt sich für Bürgerrechte ein‹ oder ›Strafe für Peng, Shanghais Wirtschaftskapitän Nummer eins‹. Damit ist die Sache beigelegt. Manche freuen sich über ihre Entschädigung, andere ziehen in die neuen Wohnungen ein, einige sind zufrieden, daß einer dieser Senkrechtstarter so tief gefallen ist, wieder andere sind froh, die Angelegenheit endlich vergessen zu können.
    Und dennoch bleiben bei dieser angeblich so befriedigenden Lösung viele Fragen offen.
    Wie konnte Peng, vor fünf, sechs Jahren noch jiaozi -Verkäufer an der Chapu Lu, so rasch zu Shanghais Wirtschaftskapitän Nummer eins werden? Er ist kein Zauberer, dafür hat er gute Beziehungen. Wieso hat Peng den Zuschlag für das Grundstück bekommen, wo sich noch andere, wesentlich qualifiziertere Baufirmen um dieses Projekt bewarben? Peng hat nur die Grundschule besucht, aber wie wir wissen, verfügt er über gute Kontakte. Wie konnte Peng, der ja eine staatliche Genehmigung zur ›Verbesserung der Wohnverhältnisse‹ eingeholt hatte, den ursprünglichen Bewohnern den Einzug in die neuen Häuser versagen? In seinem Projektplan war das schwarz auf weiß so vorgesehen, doch wie wir wissen, hat er Beziehungen. Wie konnten Regierungsstellen Peng gestatten, die Bewohner, falls nötig, mit den ›entsprechenden Maßnahmen‹ aus ihren Häusern zu vertreiben? Auch wenn Umsiedelung in dieser Stadt ein neues Phänomen ist, so hat doch jeder verstanden, was damit gemeint ist. Aber bekanntlich verfügt Peng ja über gute Beziehungen.
    Welcher Art sind diese Beziehungen?
    Das muß hier wohl nicht weiter ausgeführt werden. Ganz gleich, was ich sage, einige Leute werden es ohnehin als irrelevant abtun.
    Schließlich läßt sich für alles eine Erklärung und Rechtfertigung finden. Jemand, der heute hier in diesem Gerichtssaal sitzt, hat mir erzählt, daß wir in Zeiten sich wandelnder Perspektiven leben. Und aus jedem Blickwinkel stellen sich die Dinge anders dar. Er vergaß jedoch hinzuzufügen, daß derjenige, der die Macht hat, auch die Sichtweise festlegt.«
    Chen verstand diesen Hinweis und rieb sich erneut die Schläfen.
    »Nun hat aber mein geschätzter Kollege noch einen anderen Punkt hervorgehoben«, fuhr Jia fort. »Er sprach von ›historischen Umständen‹. Dieser Begriff stammt nicht von ihm, man kann ihn jetzt häufig hören oder lesen, und zwar vor allem dann, wenn es um die Kulturrevolution geht.«
    »Sollen wir eingreifen?« flüsterte Yu Chen zu. »Wo soll das hinführen?«
    »Nein, er weiß, wie weit er gehen kann. Warten wir noch einen Moment ab.«
    Dieser Prozeß war der erste, bei dem ein chinesischer Anwalt erfolgreich und im Alleingang gegen jene Parteikader zu Felde zog, die hinter Peng standen. Jia hatte seinen Auftritt verdient, den vermutlich einzigen schwachen Trost für sein verwundetes Ego. Außerdem wollte Chen vermeiden, daß der Prozeß von den qipao -Morden beeinflußt wurde. Es handelte sich um zwei verschiedene Fälle, die nichts miteinander zu tun hatten.
    »Natürlich sind wir nicht hier, um über die sozialen und politischen Implikationen dieses Falls zu sprechen«, fuhr Jia fort. »Aber was ist mit den Menschen, die Verluste erlitten haben, zum Teil nicht wiedergutzumachende Verluste? Zhang Peis Eltern zum Beispiel starben an den Folgen ihrer Vertreibung aus der alten Wohnung. Oder Liang Tianping, der Lähmungen davontrug, nachdem er während der Abrißkampagne durch die Umsiedelungsfirma brutal geschlagen worden war. Oder Li Guoqing, den seine Freundin verlassen hat, als er nach einer Schlägerei mit den von Peng engagierten Triaden-Gangstern inhaftiert wurde.
    Glauben Sie denn im Ernst, das
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