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Blut und rote Seide

Blut und rote Seide

Titel: Blut und rote Seide
Autoren: Qiu Xiaolong
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Bauernopfer an Peng wird Gerechtigkeit bringen?«
    Angesichts dieser provokanten Frage überlegte Chen, was Jia noch vorhatte. Vielleicht war ja alles nur Schau. Korruption anzuprangern galt derzeit als populär. Für ein solches Plädoyer war ihm der Applaus aus den Reihen der Zuschauer sicher. War ihm dieser Fall wirklich so wichtig?
    Oder steuerte Jia, der nichts zu verlieren hatte, sehenden Auges in die größtmögliche Katastrophe? Es wäre seine letzte und konsequenteste Rache, denn in seinen Augen hatte die Parteiführung die Kulturrevolution zu verantworten. Für eine Regierung, die um Schadensbegrenzung bemüht war, wäre es fatal, wenn Jia, wie gestern abend angedroht, die korrupten Beamten und ihre schmutzigen Machenschaften anprangerte.
    Eigentlich wäre Chen im Interesse der Partei verpflichtet gewesen, Jia aufzuhalten, doch es war sein Schlußplädoyer; was hier gesagt wurde, war überfällig. Wie sollte der Oberinspektor sich dazu verhalten?
    Dennoch glaubte Chen nicht, daß Jia so weit gehen würde. Sie waren vorige Nacht zu der stillschweigenden Übereinkunft gelangt, daß es während des Prozesses nicht zu dramatischen Vorfällen kommen würde. Das galt für beide Seiten. Chen hatte die Fotos, und Jia würde dessen Anwesenheit im Gerichtssaal als Warnung begreifen. Wenn er zu weit ginge, hätte das Folgen, nicht nur für ihn, sondern auch für seine Mutter. Das wußte Jia genausogut wie Chen.
    Bei dem Gedanken, daß auch er den Wohnungsbauskandal mit befördert hatte, fühlte sich Chen, als hätte er eine Fliege verschluckt.
    Er konnte sich einer bösen Vorahnung nicht erwehren. Irgend etwas lief hier falsch, er konnte nur nicht sagen, was es war. Als er versuchte, sich in Jias Lage zu versetzen, versagte seine Vorstellungskraft.
    Auch Jia mußte sich überlegt haben, wie es nach dem Prozeß weitergehen würde. Er wußte besser als jeder andere, daß seine Lage ausweglos war.
    Wie konnte er dieser Tatsache ins Auge sehen? Als einer der erfolgreichsten Anwälte der Stadt, der stets für Gerechtigkeit plädierte, stünde er dann selbst vor Gericht, schwerer Verbrechen beschuldigt und überführt, um schließlich mit eigener Hand sein Geständnis zu unterzeichnen. Ganz gleich, was er zu seiner Verteidigung vorbrächte, das Ergebnis wäre dasselbe: unvorstellbare Demütigung und Tod.
    Er konnte sich dem unmöglich aussetzen. Und erst recht nicht seine Mutter. Selbst ohne die Aufnahmen würde vieles, wenn nicht gar alles über sie ans Licht kommen.
    Doch welche Alternativen gab es für Jia?
    An diesem Punkt verbot Chen es sich weiterzudenken. Du bist kein Fisch. Wie willst du da wissen, was Fische fühlen? Jia ist krank; so hatte er es auch Yu erklärt, und das war eine Tatsache.
    Plötzlich begann Jia heftig zu husten, seine Brust hob und senkte sich krampfartig, eine fleckige Blässe überzog sein Gesicht.
    »Ist alles in Ordnung mit Ihnen?« fragte der Richter, dem daran gelegen war, daß Jia sein Plädoyer beendete.
    »Danke. Geht schon. Ein altes Leiden«, entgegnete Jia.
    Der Richter überlegte kurz, bevor er Jia aufforderte fortzufahren. Der Prozeß war zu wichtig, als daß man ihn unterbrechen durfte.
    »Ich bin versucht, Ihnen eine Geschichte zu erzählen, die gewisse Parallelen zu unserem Fall hier aufweist«, nahm Jia den Faden mit neuer Kraft wieder auf. »Die Geschichte von den Erlebnissen eines kleinen Jungen während der Kulturrevolution. Er verlor seinen Vater, sein Zuhause und dann, auf denkbar unwürdige Weise, auch seine über alles geliebte Mutter. Diese Erfahrung hat ihn tief traumatisiert; er glich einem Bäumchen, das nur verkrüppelt weiterwachsen konnte. Wie ein altes Sprichwort sagt: Kippt das Nest, so bleibt kein Ei unversehrt, auch wenn man die Risse nicht sieht. Von da an richtete er sein ganzes Trachten darauf, Gerechtigkeit für das Unglück seiner Familie zu erringen. Doch die Kulturrevolution wurde zum ›gutgemeinten Fehler Maos‹ erklärt, entschuldbar unter den besonderen ›historischen Umständen‹. Da erkannte der Junge, daß seine Mission vergeblich war und er den Kampf für Gerechtigkeit selbst würde in die Hand nehmen müssen.
    Natürlich sind die Menschen gehalten, keine Selbstjustiz zu üben, sondern ihr Recht hier im Gerichtssaal zu suchen. Aber wo gibt es einen Gerichtshof, vor dem die Verbrechen der Kulturrevolution verhandelt werden? Wird es ihn jemals geben?«
    Chen wollte sich gerade erheben, als Jia von einem noch heftigeren Hustenanfall geschüttelt
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