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Blut und rote Seide

Blut und rote Seide

Titel: Blut und rote Seide
Autoren: Qiu Xiaolong
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vorbeizudrängen.
    »Sie sind doch mit dem Fall betraut, oder?« fragte jemand aus der wachsenden Meute der Reporter.
    Im Gerichtssaal herrschte jetzt totales Chaos.
    Einige Reporter rannten hinter der Bahre her, andere richteten ihre blitzenden Kameras auf Chen und Yu, die noch immer dort standen, wo Jia zusammengebrochen war.
    Chen drängte Yu ins Amtszimmer des Richters. Kaum hatten sie die Tür hinter sich geschlossen, wurde schon von draußen dagegen gehämmert; vermutlich Reporter, die sich durch die Absperrung gedrängt hatten. Endlich verstummte das Klopfen, Sicherheitskräfte schienen die Ordnung wiederhergestellt zu haben.
    »Haben Sie dieses Ende vorausgesehen, Chef?« wollte Yu wissen.
    »Nein.« Chen war überrascht von der Schärfe, mit der sein langjähriger Partner ihn ansprach. »Zumindest nicht so.«
    Und doch hätte er es wissen können, wissen müssen. Angesichts einer Verurteilung als Serienmörder – vor dem Hintergrund der Tragödie seiner Familie –, angesichts der Fotos von der nackten Leiche der Mutter und den Details ihrer Skandalgeschichte, angesichts einer solchen ödipalen Leidensgeschichte hätte Chen selbst keinen Augenblick gezögert, so zu handeln wie Jia.
    Yus Reaktion erstaunte Chen. Vermutlich verdächtigte dieser seinen Chef, aus irgendwelchen intellektuellen Beweggründen gehandelt zu haben oder letzte Nacht den Bitten Jias erlegen zu sein. Immerhin erlaubte es der traditionelle Ehrenkodex, dem tödlich verwundeten Gegner die Möglichkeit zum Selbstmord zu geben. Hier lag der Fall zwar anders, aber Yu wußte eben nicht alles.
    »Die Schecks sind auf hohe Beträge ausgestellt«, bemerkte Yu sarkastisch, »aber Geld spielte ja keine Rolle für ihn.«
    Jias letzte Tat war zugleich ein Ausdruck seiner Reue. Er war nicht der unzurechnungsfähige Killer, als den Chen ihn dargestellt hatte. Er war sich seiner Verbrechen im Grunde immer bewußt gewesen. Die hohen Beträge auf den Schecks waren Jias Angebot einer Wiedergutmachung, obgleich er in seinem Plädoyer selbst gesagt hatte: Das ist keine Gerechtigkeit.
    Dennoch steckte mehr dahinter, ein Flehen um Nachsicht, das allein der Oberinspektor verstehen konnte, und zugleich ein Appell an dessen eigene Integrität. Würde Chen sein Wort brechen, so könnte er das Verdienst in Anspruch nehmen, den Fall gelöst zu haben, und obendrein noch die Sensationsgeschichte mit allen Fotos veröffentlichen. Jias unterschriebene Schecks waren Ausdruck seines uneingeschränkten Vertrauens in Chen. Genau wie sich in den Schlachten des Altertums der sterbende Krieger auf den von ihm respektierten Gegner verlassen konnte.
    Doch nun saß Chen selbst in der Falle, kalter Schweiß brach ihm aus.
    »Jia hätte das nicht tun müssen«, sagte er schließlich zu Yu. »Er war klug genug, um sich über die Konsequenzen im klaren zu sein. Mit diesen Schecks hat er seine Verbrechen eingestanden. Zugleich wollte er mich mahnen: Er hat wie versprochen kooperiert; jetzt ist es an mir, mein Wort zu halten.«
    »Welches Wort?« fragte Yu in scharfem Ton. »Sie werden doch jetzt einen Bericht über den Fall schreiben, oder?«
    Ach ja, der Bericht.
    Die Parteiführung würde Erklärungen verlangen. Und als Parteimitglied konnte der Oberinspektor diese kaum verweigern. Damit würde die Geschichte ans Licht kommen.
    Aber nicht unbedingt die ganze Wahrheit, überlegte Chen. Und zwar dann nicht, wenn er ausreichend Hinweise auf den kulturrevolutionären Hintergrund des Falles ausstreute. Wenn er es richtig anstellte, würden sich die Verantwortlichen mit vagen Erklärungen zufriedengeben. Das Ausgraben historischer Skelette konnte brenzlig werden. Auf diese Weise würde er die Regierung vielleicht dazu bringen, die Sache zu vertuschen und statt dessen eine Version zu präsentieren, die für alle annehmbar war. Vage Andeutungen über den Tod des Serienmörders, die vielleicht sogar dessen Identität und Beweggründe im dunklen ließen. Es würde immer Leute geben, die die Darstellung des Oberinspektors anzweifelten. Solange es keine weiteren Leichen im roten qipao gäbe, würde der Sturm über ihn hinwegziehen.
    »Er ist zu billig davongekommen.« Yu ließ nicht locker; Chens Schweigen schien ihn zu ärgern. »Vier Mordopfer, eines davon Hong.«
    Yu hatte den Tod seiner Kollegin noch nicht verkraftet. Chen konnte ihm das nachfühlen. Trotzdem, Yu wußte einfach zu wenig über Jia und die Hintergründe des Falls. Chen war sich nicht sicher, ob er seinem Partner das alles
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