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Blut muss fließen

Blut muss fließen

Titel: Blut muss fließen
Autoren: Thomas Kuban
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vorbei.
    Logischerweise kann nicht alles und vor allem nicht alles schnell recherchiert werden – erst recht dann nicht, wenn ein Thema erst noch erarbeitet werden soll, das akut zur Veröffentlichung ansteht. Sofern jedoch Sender und Verlage ohne aktuellen Anlass Grundlagenrecherchen betreiben, wächst die Wahrscheinlichkeit, dass politische und andere Überraschungsangriffe mit PR-Charakter fehlschlagen. Das würde allerdings Geld kosten, zum Teil viel Geld, und deshalb werden diese Recherchen häufig der Rendite oder den ebenfalls teuren, aber massenkompatibleren Sportübertragungen geopfert. Karrieristen in den Medienhäusern haben diese Prioritätensetzung verinnerlicht und vollziehen sie in einer Selbstverständlichkeit, die jungen Journalisten teilweise schon während der Ausbildung vermittelt wird. Cross-medial zu denken ist heute Einstellungsvoraussetzung, kritisch zu denken allenfalls eingeschränkt. Auf dem heutigen Medienmarkt sind Redakteure gefragt, die aus einer Nachricht viele Berichte (in Schrift, Ton und Bild) machen, und nicht Rechercheure, die einen Bericht aus vielen Nachrichten erarbeiten.
    Die Medienerfahrungen, die ich während meiner Nazi-Recherchen gesammelt und in diesem Buch geschildert habe, sind nur ein Fallbeispiel. Ich weiß von Kolleginnen und Kollegen, die andere Themengebiete tiefgehend bearbeiten, dass sie auf dasselbe Desinteresse vieler Redaktionen oder sogar noch auf größeres Desinteresse stoßen; das Nazi-Thema hatte wenigstens ab und zu »Konjunktur«. Manche Journalisten passen sich an, manche orientieren sich beruflich um, und manche ruinieren sich existenziell. Nur wenige haben das Glück, eine Nische gefunden zu haben, in der sie ein Berufsethos pflegen können und sollen, wie es vor 20 bis 30 Jahren weit verbreitet gewesen ist.
    In meinem Fall war es der finanziellen Unterstützung meiner Eltern und dem außergewöhnlichen Verständnis »meines« Haus | 306 | bankers zu verdanken, dass die Rechtsrocker nicht schon seit 2006 wieder ungestört abhitlern konnten. Damals stand ich zum ersten Mal kurz vor der Privatinsolvenz und seither immer wieder.
    Die Fahrt zum ungarischen »Tag der Ehre« im Februar 2007 wurde für mich zum beruflichen Showdown. Mein Girokonto war über dem Dispolimit; was die Kreditkarte hergab, musste reichen. Mit dem Offenbarungseid im Hinterkopf bereitete ich mich 200-prozentig vor. Nahe an der Paranoia, dass meine Kameratechnik versagen könnte, überprüfte und testete ich sogar noch in meinem Budapester Hotelzimmer die Ausrüstung unzählige Male.
    Im Anschluss an das nachmittägliche Antreten auf dem Heldenplatz führte der teilweise holperige Weg zum Konzert nach Nogradsap. Die ländliche Gegend, knapp 70 Kilometer nordöstlich von Budapest, wirkte zwar nicht wie der Arsch der Welt, aber so, als könne man ihn von dort aus sehr gut sehen. Ich kämpfte wie immer vor solchen Undercover-Drehs mit meiner Angst, als ich mein Auto am Straßenrand parkte und meine Kamera einschaltete – und dann zu meinem Entsetzen eine Fehlermeldung erhielt: kein Videosignal. Die Strapazen der Fahrt, die nervliche Belastung aufgrund des finanziellen Risikos und der Ärger über die Panne als solche drohten mich schlagartig arbeitsunfähig zu machen. Gefühlsmäßig irgendwo zwischen Wutanfall und Depression rang ich mit meiner Beherrschung und mit der Technik, während um mich herum immer mehr Nazis ankamen. Schnittstelle für Schnittstelle untersuchte ich meine Geräte und Kabel. Und glücklicherweise fand ich die Ursache: Ein Stecker an der Kamera war gebrochen. Mit Klebeband gelang es mir, das Videokabel notdürftig zu fixieren. Dann konnte es losgehen. Die Erleichterung pushte mich für einige Stunden, ehe sie der Ermüdung wich. Stundenlang dröhnte ungarischer und damit für mich unverständlicher Hatecore aus den Boxen, nur eine britische Band kam als inhaltlich analysierbare Abwechslung dazwischen. Es wuchsen die Zweifel, ob der angekündigte deutsche Beitrag überhaupt noch kommen würde.
    Mitten in der Nacht war es endlich so weit: Der bayerische Nazi-Hetzer Manfred Edelmann alias »Edei« betrat mit seiner Gitarre die Bühne und spielte Lieder, von denen eines menschenverachtender als | 307 | das andere war. Er leugnete den Holocaust, kündigte den »letzten entscheidenden Schlag« gegen »die jüdische Drecksau« an und forderte dazu auf, Schwarzafrikaner »wie Scheiße« das Klo hinunterzuspülen. So einen Auftritt hatte ich in all den Jahren noch
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