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Blut & Barolo

Titel: Blut & Barolo
Autoren: Carsten Sebastian Henn
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verharrten dann. Geredet wurde wenig, die Stimmung glich eher einer Beerdigung. Nur ein Mann, der den Mittelgang des Hauptschiffes beständig auf und ab schritt, verbreitete Hektik. Und rauchte in der Kirche! Amadeus hätte ihm den schmauchenden Stängel am liebsten aus der Hand geschlagen, doch sein Körper war zu schwach.
    Zudem war dies nun nicht mehr sein Reich.
    Das heilige Tuch war fort, eine leere Truhe musste niemand bewachen.
    Sein Vater würde wissen, was nun zu tun war. Amadeus bewunderte ihn zutiefst, denn seine Augen blickten unfassbar weit. Auch wusste er auf alles eine Antwort. Zwar hatte Amadeus niemals Geschichten über eine solch ungeheure Begebenheit gehört, doch es musste sie geben, denn schon seit Jahrhunderten bewachte seine Meute das Tuch. Von den Tagen an, als der Herr in Israel darin gebettet lag, über die Zeit in der prachtvollen Stadt Edessa in Mesopotamien bis zur Marienkirche im Blachernen-Palast Konstantinopels. Kreuzritter raubten es von dort und brachten es den Templerrittern in Athen. Von dort gelangte es in die Hände des ehrenwerten französischen Ritters Geoffroy de Charny, der eine Stiftskirche bei Troyes erbauen ließ, wo das Sindone den Gläubigen gezeigt wurde. Die Pharaonenhunde waren stets an der Seite des Tuches gewesen, hatten es nie aus den Augen gelassen. Selbst als es in eine Festung bei Monfort en Anoix gebracht wurde, fanden sie einen Weg, ihm zu folgen. Von Burg zu Burg wanderte es im Hause Savoyen. Die Meute allein wusste, welches Grabtuch das echte war. Mehrere befanden sich im Umlauf, die Menschen sahen nur mit den Augen, erblickten, was sie sich erhofften, und spürten nicht, was wirklich war. Lange Zeit bewachten die Hunde das Sindone in der Schlosskapelle von Chambéry, wo es in einer Silberkiste hinter dem Altar ruhte. Selbst den damaligen Brand hatte die Meute überstanden, die Menschen herbeirufend, um das Tuch den Flammen zu entreißen. Danach folgten die Jahrhunderte in Turin, der neuen Residenzstadt des Hauses Savoyen.
    Nichts hatte die Pharaonenhunde vom Sindone trennen können.
    Amadeus schlich hinaus, vorbei an weiteren Uniformierten. Das, was ihn mit dem Duomo verband, existierte nichtmehr. Trotzdem fiel es ihm mit jedem Schritt schwerer, jenen Platz zu verlassen, der ihm für den Rest seines Lebens zugewiesen worden war.
    Der Weg zur Heimstatt der Meute war kurz. »Die Insel« nannten sie diese, denn im unruhigen Meer Turins, nah den wogenden Massen der Bewunderer des Sindone, lag sie still und sicher. Wieder fiel Schnee und bedeckte alle Spuren rund um den Duomo. Petrus schien kein Interesse an der Aufklärung dieses Verbrechens zu haben.
    Amadeus’ Schritte beschleunigten sich, er wollte zurück zwischen die Leiber seiner Meute, die in kalten Winternächten wie Blätter aufeinanderlag, eine wunderbare Wärme ausströmend. Die Insel lag in den Giardini Reali, die direkt an den Duomo grenzten. Zwei seiner Brüder hielten Wache im Park. Von der imaginären Linie auf dem schneebedeckten Rasen wussten nur die Pharaonenhunde. Diese Grenze bestand schon, bevor die Stadtverwaltung beschlossen hatte, hier Gras zu säen. Sie stammte aus einer Zeit, als an dieser Stelle noch Mauern verliefen.
    Amadeus verfiel in einen Galopp, denn nur noch wenige Meter trennten ihn von seinen Brüdern, und er wollte sie umrennen, wie er es als Welpe immer getan hatte. Ihm war nach Übermut, nach Raufen und Jagen, um das zu vergessen, was er im Duomo hatte erblicken müssen. Amadeus kläffte spielerisch.
    Doch er erntete ein Zähnefletschen.
    Tief hingen die Häupter der geliebten Brüder, hoch die Lefzen, die scharfen Fänge bloßlegend, das Knurren drang tief aus ihren Körpern.
    Dies war kein Spiel.
    Amadeus stoppte abrupt, durch den Schwung seines Laufs stürzte er dabei fast. Und legte den Kopf zur Seite. Dies waren doch seine Brüder, er sah und roch es! Es war sein Blut, und es stand ihm feindlich gegenüber, als sei erein eindringender Dachs. Der Intimfeind seines Rudels. Einer der gefräßigen Räuber musste hinter ihm stehen.
    Amadeus drehte sich langsam um, bereit, sich auf den Grimbart zu stürzen.
    Doch hinter ihm lag nur frisches, unschuldiges Weiß. Als Amadeus wieder zurück zur Insel blickte, stand dort nun auch sein jüngster Bruder, dem er alles über das Leben in den Straßen und Gassen Turins beigebracht und die unerschöpflichen Mülltonnen des Porta Palazzo gezeigt hatte. Er war noch nicht einmal ausgewachsen.
    Warum nur knurrten sie ihn an?
    Waren sie
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