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Blindes Grauen

Blindes Grauen

Titel: Blindes Grauen
Autoren: Lynn Abercrombie
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durch.
    Reiß dich zusammen, MeChelle, sagte sie sich. Oberste Polizistenregel: Wenn man hochkommt, muss man sich als Erstes einen Überblick über die Situation verschaffen. Alle weiteren Vorgehensweisen ergeben sich daraus, aus diesem entscheidenden Anfang. Wenn du dich unter Kontrolle hast, hast du die Situation unter Kontrolle; und hast du die Situation unter Kontrolle, kommst du heil nach Hause.
    »Na gut!«, rief sie. Sie mühte sich um ihre Cop-Stimme, die Alles-unter-Kontrolle-Stimme. »Na gut, ihr da draußen!«, rief sie wieder. Lauter und entschlossener diesmal. Sie streckte die gespreizten Hände aus. »Hier bin ich. Redet mit mir.«
    Tick. Tick. Tick. Nichts außer dem Klang der Uhr.
    Sie drehte wieder an dem Knauf. Keine Bewegung. Sie atmete tief durch, drängte die Panik zurück. Dann wandte sie der Tür den Rücken zu.
    »Ich habe gesagt, redet mit mir.«
    Und da sagte eine Stimme: »Gratuliere. Sie haben den ersten Schritt getan.«
    Wie das Ticken der Uhr war auch die Stimme überall um sie herum. Als käme sie aus mehreren Lautsprechern, die … wo angebracht waren? An der Decke? In den Wänden? Beides?
    Die Stimme, dachte sie, die Stimme. Habe ich die Stimme schon einmal gehört? Es war eine tiefe, kraftvolle Stimme. Heiser, sorgsam moduliert, emotionslos, und doch irgendwie ein wenig bedrohlich. Wie die Stimme Gottes – Gott, wenn er einem das Alte Testament um die Ohren haute.
    »Sergeant Deakes«, verkündete die Stimme, »Ihnen bleiben dreizehn Stunden. Die Uhr tickt.«
    Ja, das tat sie. Das Ticken der Uhr war überall.
    Tick. Tick. Tick.
    »Sagen Sie mir Ihren Namen«, forderte sie. »Noch haben Sie die Chance, die Sache abzubrechen, ohne den Rest Ihres Lebens im Gefängnis zu verbringen.«
    Aber die Stimme Gottes hatte alles gesagt, was sie sagen würde. Jetzt blieb ihr nur die Uhr.
    Tick. Tick. Tick.

3
    Der Junge, Cody Floss, musste laufen, um seinen eigenen Wagen einzuholen. Aber schließlich schaffte er es doch noch. Sein billiger Anzug war voller Staub.
    »In dem Ding siehst du aus wie der Lehrling eines Totengräbers«, sagte Hank Gooch.
    »Sir, dieser Wagen ist städtisches Eigentum«, sagte der junge Mann und atmete schwer, während er seinen Sicherheitsgurt anlegte. »Es ist eigentlich nicht erlaubt, dass nicht bei der Stadt Angestellte ihn fahren …«
    Gooch trat aufs Gas und drückte den Jungen in seinen Sitz. »Immer mit der Ruhe«, sagte er.
    Gooch war wund, ein wandelnder Nerv. Keine Ahnung warum. Nicht die geringste Idee.
    Alles hätte so einfach sein können. Nach fünfundzwanzig Jahren Berufsleben – erst als Soldat und dann als Cop – hatte er sich bei halbem Gehalt zur Ruhe gesetzt, um das zu tun, was er schon lange hatte tun wollen. Er wollte ein einfacher Waffenschmied werden und Klingen in der tausend Jahre alten Tradition der großen japanischen Meister erschaffen. Diese Vorstellung hatte er viele Jahre lang gehegt.
    Aber jetzt, wo es so weit gekommen war, wo er hier draußen auf dem Land festsaß und tat, was er so lange geplant hatte, stellte er fest, dass er eigentlich ständig schlechte Laune hatte. Er hatte sich stets für einen dieser Typen gehalten, die sich nicht so leicht von irgendwas unterkriegen ließen. Aber jetzt erschien ihm die Welt leer, voll Falschheit und Oberflächlichkeit, und alles machte ihn wütend. Er warf sogar mit Bierdosen nach den Fernsehnachrichtensprechern, so stand es um ihn. Vor ein paar Monaten hatte er, während er sich ansah, wie irgendein Politiker mit einem Toupet sich um Kopf und Kragen log, den Fernseher gepackt, war zum Fenster getaumelt, und hatte das Ding raus auf den Rasen geschmissen. Wo er immer noch lag, schlammbespritzt und mit ein paar Halmen Stroh dran.
    Besser so.
    Und jetzt wollte er ohne besonderen Grund diesem Jungen eins in die Fresse hauen. Der Junge hatte ihm überhaupt nichts getan. Er war ihm nur irgendwie in die Quere gekommen.
    Aber andererseits hatte er das in letzter Zeit im Grunde über jeden gedacht, den er traf.
    »Also dann«, sagte Gooch, während sie über den unbefestigten Weg ratterten, der von seinem Haus zum County Highway führte. Rechts von dem Weg befand sich ein Wald, links wuchsen Sojabohnen, ein großes Berieselungsfahrzeug mit langen Rohren dran hockte in der Feldmitte wie ein riesiges Insekt. »Erzähl mir von MeChelle.«
    »Also, gestern Nachmittag hat sie an diesem Fall gearbeitet. Sie ist losgezogen, um einen Zeugen zu vernehmen und … dann ist sie heute einfach nicht wieder zur
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