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Blindes Grauen

Blindes Grauen

Titel: Blindes Grauen
Autoren: Lynn Abercrombie
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keine zwei Stunden in diesen Jahren vergangen, in denen ich nicht an ihn gedacht habe.«
    MeChelle schwieg.
    »Manchmal habe ich vergessen zu duschen, vergessen zu schlafen, vergessen zu essen, vergessen zu lachen, vergessen, nett zu Menschen zu sein …« Er fletschte die Zähne, als sollte es ein Lächeln sein. »Manchmal habe ich sogar sie vergessen.« Er starrte das verblasste kleine Mädchen auf der Rückseite seiner Marke an, und plötzlich lief ihm eine Träne über das Gesicht, tropfte von seiner Nasenspitze. »Aber ich habe ihn nie vergessen. Nicht eine Sekunde lang.«
    »Hör mal«, sagte MeChelle, »Lane musste es nicht so machen. Sie hätte auch einfach zu uns kommen und uns sagen können, was sie herausgekriegt hatte.«
    »Und dann? Versetz dich mal in ihre Lage, als sie das kleine Stoffhäschen irgendwo unter Joes Sachen findet. Stell dir vor, wie sehr du deinem Mann vertraust, wenn du blind bist. Und dann kriegst du heraus, dass der Kerl, der dich vor der Welt beschützen soll, derselbe Mann ist, der deine Mutter auf dem Gewissen hat? Jetzt stell dir vor, dein Mann ist reich, mächtig, politisch vernetzt, gnadenlos? Teufel, MeChelle, stell dir nur vor, wie verzweifelt sie gewesen sein muss, wie hoffnungslos. Wie wenig Möglichkeiten sie hatte. Sie muss sich gedacht haben: Okay, in verzweifelten Situationen sind verzweifelte Maßnahmen erlaubt. Sie sitzt da und kocht vor sich hin und sorgt sich und quält sich. Und dann, plötzlich, kommt sie darauf – der ganze verrückte, verzweifelte, komplizierte, durchgedrehte Plan. Und sie denkt sich: Mein Gott! Vielleicht gibt es einen Ausweg!«
    »Hör mal …«
    »Ich sage bloß«, erklärte Gooch, »dass ich verstehe, wie es dazu kommen konnte. Sie ist fertig damit. Sie ist alle. Sie wird nie wieder im Leben so etwas anstellen.«
    »Das mag schon sein, aber …«
    »MeChelle, es gibt Leute dort draußen, die wir davon abhalten können, schlimme Dinge zu tun, Leute, die höchstwahrscheinlich noch zwei, drei Typen umlegen, wenn wir sie nicht einsperren. Oder wir können auch daran arbeiten, diese eine traurige Frau ins Gefängnis sperren zu wollen.«
    MeChelle schwieg.
    »Es liegt bei dir«, sagte Gooch. »Wenn du sie drankriegen willst, dann machen wir das. Aber, wenn ich es wäre …«
    MeChelle war erstaunt. Gooch fragte sie nach ihrer Meinung? Wer hätte das gedacht? Sie saß eine Weile da und dachte nach.
    Gooch hatte wahrscheinlich recht: eine reiche, blinde Frau – so etwas würde sie nie wieder tun. Und, bei Gott, sie hatte gelitten. Man konnte Mitleid mit ihr haben. Aber zugleich war das, was sie getan hatte, unentschuldbar, oder etwa nicht? Selbst wenn man wusste, was die Frau durchgemacht hatte, sie war im Haus gewesen, als ihre Mutter getötet worden war … Das rechtfertigte trotzdem nicht, was sie getan hatte. Was sie MeChelle und Gooch angetan hatte. MeChelle war immer noch wütend.
    »Eins verstehe ich immer noch nicht«, sagte MeChelle. »Glaubst du, sie hat Stormé Venda umlegen lassen? Oder war das Joe?«
    Gooch zuckte mit den Achseln. »Stormé Venda schuldete einer Menge Leute eine Menge Geld. Darunter ein paar ziemlich üblen Typen. Ich habe gerade gestern mit dem Polizisten aus De-Kalb County gesprochen, Constant Reece. Er denkt, es war jemand, der ihr Geld geliehen hat, jemand, dem sie fünfzehn Riesen schuldete. Aber wir werden es wahrscheinlich nie erfahren.«
    MeChelle dachte eine Weile nach. Sie konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass es nicht in Ordnung war, Lane Priest vom Haken zu lassen. Nur weil sie blind und emotional derangiert war? Nein, das war keine Entschuldigung.
    »Ich will sie drankriegen«, sagte MeChelle. »Mir ist egal, was ihr zugestoßen ist, wie traurig ihr Leben war, ich will sie drankriegen. Sie hätte es anders machen können.«
    Gooch atmete tief durch. »Bist du sicher?«
    Sie nickte.
    Er langte nach unten, nahm seine Handschellen vom Gürtel, reichte sie ihr.
    »Was ist das?«, fragte sie.
    »Ich mache es nicht selber«, sagte Gooch. »Aber ich unterstütze dich. Wir gehen jetzt rein und verhaften sie.«
    »Was?«, fragte MeChelle. »Wir haben nichts gegen sie in der Hand.«
    Gooch griff in seine Tasche und zog einen kleinen Kassettenrecorder heraus.
    »Da ist alles drauf«, sagte er. »Unser ganzes Gespräch. Am Ende hat sie mehr oder weniger zugegeben, dass sie es war. Es ist auf dem Band, dass jemand dir den Treuhänderfonds-Vertrag vorgelesen hat. Sie wusste davon. Und du hast es ihr nie gesagt. Ich
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