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Blinder Instinkt - Psychothriller

Titel: Blinder Instinkt - Psychothriller
Autoren: Andreas Winkelmann
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Treppe hinauf, versickerte aber auf halbem Wege.
    Sie könnte ins Bett gehen!
    Sie könnte sich einfach hinlegen und einschlafen. Müde genug war sie, der Tag war anstrengend gewesen. Sich heute nicht mehr um das kümmern, was sie schon so lange vor sich herschob, war eigentlich genau, was sie wollte, und auf eine oder zwei Wochen kam es doch gar nicht an!
    Aber Franziska ahnte, dass es darauf sehr wohl ankam, denn Zeit stand jetzt nicht mehr ausreichend zur Verfügung. Bis vor kurzem hatte sie nicht gewusst, was es wirklich bedeutete,
keine Zeit mehr zu haben, auch wenn sie, wie fast alle, diese Floskel tagtäglich gebrauchte. Im Grunde lernte sie gern etwas hinzu, aber auf dieses spezielle Wissen hätte sie lieber noch eine Weile verzichtet.
    Nein! Aufschieben war keine Option mehr, und wahrscheinlich würde sich kein so perfekter Zeitpunkt mehr finden wie heute Abend. Vor einer Stunde hatte Franziska sich ins Bett verabschiedet, aber das war nur ein Vorwand gewesen, um ihre Mutter ebenfalls ins Bett zu locken. Und es hatte funktioniert: Mutter schlief längst tief und fest - sie konnte sie leise im Nebenraum schnarchen hören. Gut so - für ein vernünftiges Gespräch musste sie mit ihrem Vater allein sein. Er hatte angekündigt, länger aufbleiben zu wollen, um sich den Boxkampf anzuschauen.
    Franziska trat auf den Flur hinaus und kam sich dabei vor, als zöge auch sie in einen Kampf. Warum fiel es ihr so verdammt schwer? Solche Gespräche sollten doch zu dem Normalsten gehören, was Vater und Tochter miteinander tun konnten!
    Die Geräusche des Fernsehers wurden mit jeder Stufe, die sie hinunterstieg, lauter. Der kurze Weg vom Ende der Treppe bis zur Wohnzimmertür war eine Zeitschleuse. Jeder Schritt führte sie in die Vergangenheit. Plötzlich war sie die kleine Franzi, kaum zehn Jahre alt, die barfuß und auf Zehenspitzen durch einen endlos langen Korridor schlich, die Händchen zu Fäusten geballt an die Wangen gedrückt, krampfhaft darum bemüht, ja kein Geräusch zu machen. Sie sollte längst schlafen, schon seit Stunden, aber weil sie irgendwas bedrückte oder sie Angst hatte, war sie aufgestanden in der Hoffnung, Papa allein vor dem Fernseher oder an seinem Schreibtisch zu finden.

    Franziska trat unter den Türrahmen und sah zu ihrem Vater hinüber. Er bemerkte sie sofort, hatte sie wahrscheinlich längst gehört, und wandte ihr sein Gesicht zu. Ein Gesicht voller Furchen, mit Tränensäcken, Altersflecken und schütterem weißen Haar. Immer noch ihr Papa, immer noch dieses ehrliche Lächeln, aber die Kraft und Sicherheit, die es immer ausgestrahlt hatte, war verschwunden. Ein Teil war mit dem Ende ihrer Kindheit aus diesem Haus ausgezogen, den Rest vertrieb nun die Krankheit.
    »Hey, Franzi«, sagte er mit rauer Stimme, »was ist los? Kannst du nicht schlafen?«
    Sie nickte, ging hinüber und ließ sich neben ihm auf die Couch fallen.
    »Ich bin eigentlich todmüde, kann aber nicht einschlafen.«
    »Das kenne ich. Wir haben am späten Nachmittag einfach zu viel Kaffee getrunken.«
    So war er! Immer eine Erklärung parat, die einleuchtend klang und keinen Anlass zu weiterer Sorge gab.
    »Bleib doch noch ein wenig bei mir. Wir können uns den Kampf zusammen anschauen. Früher hast du Boxen geliebt.«
    Dass er den letzten Satz mit einem gewissen Unterton sagte, verstand sich von selbst. Von ihrem zwanzigsten Geburtstag an war sie sieben Jahre mit Boris zusammen gewesen, einem Amateurboxer, der den Aufstieg in die Profiliga verpasst und sich selbst dafür mit Drogen und anderen Frauen belohnt hatte. Ihr Vater hatte ihm vom ersten Tag an nicht vertraut, aber wer hört bei der ersten großen Liebe schon auf den Rat seines Vaters!
    Franziska rollte mit den Augen. »Früher war ich vor Liebe
blind. Soll ich uns ein Bier holen?«, blockte sie das Thema ab.
    Er überlegte einen Moment, wog die Verlockung des Moments gegen die Warnungen ab.
    »Klar!«, sagte er schließlich. »Allein hätte ich keins getrunken, aber mit dir zusammen … auf jeden Fall.«
    »Okay.« Franziska lief in die Küche, holte zwei Dosen Bier aus dem Kühlschrank und kehrte schnell ins Wohnzimmer zurück. Auf der Couch schlug sie die Beine unter und machte es sich bequem. Sie rissen die Dosen auf, prosteten sich zu und tranken. So gut hatte Dosenbier Franziska lange nicht mehr geschmeckt.
    Ihr Vater deutete mit der Dose auf den Fernseher. »Die haben natürlich Verspätung, wie immer. Es läuft noch ein Vorkampf. Uninteressant, aber nicht
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