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Blinde Angst

Titel: Blinde Angst
Autoren: George D Shuman
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drückte Sherrys Hand und verbiss sich die Tränen.
    »Wir müssen vorsichtig sein, verstehen Sie? Wir wollen ihnen keine Angst machen.«
    »Ja«, antwortete Carol. Sie verstand das sehr gut.
    »Ich habe jemanden mitgebracht. Sie will den Toten sehen. Es ist eine Polizeiangelegenheit«, blaffte der Oberst. »Geht zur Seite.«
    »Lassen Sie ihn hierbleiben«, wandte Sherry ein. »Ich will, dass er mir hilft.«
    Einen Moment lang herrschte Stille, dann zuckte der Oberst gleichgültig mit den Schultern, drehte sich um und ging weg.
    »Er ist blind«, sagte Carol staunend. »Der alte Mann. Er kann nicht sehen.«
    »Das sollte es einfacher machen«, meinte Sherry lächelnd und drückte ihre Hand.
    Die Leute machten Platz, als Sherry auf sie zukam. »Wie weit ist er weg?«, fragte sie.
    »Drei Meter. Der Boden vor Ihnen ist eben.« Carol trat vor und drehte Sherrys Schultern in die richtige Richtung. »Der Hungan ist genau geradeaus – der Tote liegt direkt vor ihm.«
    Sherry ging ohne zu zögern weiter, und die Menge der Anwesenden teilte sich, um sie durchzulassen. Sie roch den Schweiß, den Rum und den Tabak, und auch die halb verweste Leiche vor ihr auf dem Boden.
    Sie brach das Schweigen: »Sie sind der Hungan?«
    »Kisa?«, erwiderte der alte Mann misstrauisch – Wer bist du?
    Sie wusste nun genau, wo er war, trat noch drei Schritte vor und kniete sich auf den Boden. Auf den Knien rückte sie bis zu Pioches leblosem Körper vor.
    »Mein Name ist Sherry Moore.«
    »Was willst du, Frau?«
    »Ich bin gekommen, weil ich gern etwas von Ihnen lernen würde.«
    Der Hungan wandte sein Gesicht zur Decke empor.
    »Hier gibt es nichts zu lernen.« Er schüttelte den Kopf.
    Sherry beugte sich vor und flüsterte: »Es geht um etwas Bestimmtes.«
    Carol sah den Oberst auf dem Weg zu den Autos zurückgehen.
    »Du willst sicher irgendeinen Zauber«, entgegnete der alte Priester. »Das hier«, fügte er verärgert hinzu, »ist ein Begräbnis, Frau.«
    »Ich weiß«, betonte Sherry leise. »Ich muss wissen, was er Ihnen gesagt hat.«
    »Er ist tot«, schnaubte der Hungan.
    »Aber Sie können sie sprechen hören, nicht wahr?«, fragte Sherry rasch. »Sie antworten Ihnen, nicht wahr?«
    Der Hungan lächelte. »Du hältst mich wohl für einen Narren.«
    »Ganz im Gegenteil«, versicherte Sherry. »Ich spreche auch mit ihnen.«
    Der alte Mann seufzte müde und sah sich um, als würde er sich gleich erheben. Im Feuerschein glänzte der Schweiß auf seinem runzligen schwarzen Gesicht mit den grauen Bartstoppeln. Er beugte sich plötzlich vor.
    »Du sprichst mit den Toten«, sagte er verächtlich.
    Es war durchaus möglich, dass der Hungan ein Scharlatan war. Oder dass er tatsächlich an das glaubte, was er tat, ermutigt durch den Aberglauben der Leute. Da machte Sherry sich nichts vor. Es bestand aber auch die Möglichkeit, dass der alte Mann die Wahrheit sagte. Wer wusste das besser als sie? Wie viele Leute hatten in all den Jahren nicht an ihr gezweifelt? Der Zweck ihres Besuchs war, die Hand des Toten zu berühren, und um das zu erreichen, musste sie mit dem Hungan ins Gespräch kommen.
    »Um die Wahrheit zu sagen, sie sprechen nicht mit mir«, gab Sherry zu, »aber lassen Sie es mich erklären. Wenn ich sie berühre, wenn ich ihre Hand halte, zeigen sie mir Bilder von Orten, an denen sie gewesen sind, und was sie zuletzt gedacht haben. Ich hatte gehofft, Sie könnten mir sagen, was dieser Mann Ihnen gesagt hat, oder vielleicht sehen Sie ja auch die Bilder.«
    »Ich bin blind«, versetzte er verächtlich und schickte sich an, vom Boden aufzustehen.
    Sherry roch den Rum in seinem Atem und sein Rasierwasser.
    »Ich auch«, antwortete sie.
    Der alte Mann hielt inne, und seine milchweißen toten Augen trafen auf die dunkle Barriere zwischen ihnen. Er setzte sich wieder hin. »Bitte«, sagte er. »Setz dich.«
    Sherry ließ sich vorsichtig auf dem Boden nieder.
    Der Hungan streckte die Hand über Pioches Leiche hinweg aus, um ihr Gesicht zu berühren, bis seine Fingerspitzen ihre Wange fanden. Sherry beugte sich vor und ließ ihn über ihre Nase streichen, dann legte der Hungan die flache Hand auf ihr Gesicht. Er tastete mit den Fingern über die Konturen ihres Gesichts, über Nase, Kinn, Stirn und Augen.
    »Es tut mir leid, dass ich euch gestört habe«, sagte Sherry, »und dass ich in das Begräbnis dieses Mannes platze. Aber die Zeit ist knapp, und ich bin gekommen, weil ich etwas wissen muss.«
    »Was?«, fragte der alte Mann.
    »Ich
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