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Blendwerk - Ein Piet-Hieronymus-Roman

Titel: Blendwerk - Ein Piet-Hieronymus-Roman
Autoren: PeP eBooks
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wilde Deponien am Ufer. Die Landschaft sah müde aus. Es lag auch kein Schnee mehr, der etwas hätte beschönigen können. Unser Hunger war so groß, daß wir nur noch von Essen redeten, von gebackenen Muscheln, von Saté, von wahren Curryorgien.
    Am Nachmittag erreichten wir den Randbezirk der ersten größeren Stadt. Wir landeten an und stießen anschließend das Boot zurück in die Strömung. Es blieb unter einem Brückenpfeiler hängen, kippte und lief voll. Dick legte die Hand an die Stirn und salutierte.
    Dann fuhren wir mit der Straßenbahn zum Zentrum. Auf dem Bahnhofsplatz drehte sich immer noch die gleiche Kindereisenbahn im Kreis. Es war nicht das gleiche Kind, das in einem der Wagen saß. Aber es hatte den gleichen Gesichtsausdruck.
    Wir aßen jeder drei Bratwürste. Dann gingen wir auf den Bahnsteig, von dem aus die Züge gen Westen fuhren.
    Als wir Weimar passierten, deutete Dick hinaus. »Sieh mal, Piet, was für ein altes häßliches Gesicht diese ehemalige Hochburg der deutschen Geistesgeschichte hat. Kannst du sie dir hier vorstellen? Goethe, Schiller, Lenz, Herder? Lenz würde heute wahrscheinlich Broiler verkaufen, Goethe wäre ein wichtiger Exstasimann, der jetzt wieder im Kulturamt sitzen würde, um Förderungsanträge zu verwerfen. Und Schiller? Mit ihm könnte man wahrscheinlich nichts Richtiges anfangen, damals wie heute nicht. Zu ideenbeladen, zu verquast. Ein typischer Deutschling. Vielleicht würde er bei der Reichsbahn arbeiten als Inspektor für Verspätungen. Herder könnte ich mir heute noch am ehesten vorstellen, ein resignierter Menschenhasser, der sich in seinem Zimmer einschließt und zur Flasche greift.«
    Ich hatte nie etwas von diesem Herder gehört. Dick mußte ganz schön gebildet sein inzwischen.
    Dick gab noch eine Probe seines gestiegenen Allgemeinwissens. »Die Deutschen sind verrückt. Wie kommt es, daß die meisten wichtigen Entdeckungen, Bewegungen, Erfindungen, großen Kriege des letzten Jahrhunderts von diesem Volk ausgegangen sind? Marx, Einstein, Freud, die große Trinität dieses Jahrhunderts. Der Buchdruck von Gutenberg, die erste Taschenuhr, eine Revolution im Hosensack, die Spießer konnten endlich pünktlich sein, auch eine deutsche Erfindung, dann die Musik, die Oper, das Lied, du weißt es, ohne das Lied gäbe es keine schwülstigen Gefühle, ohne die es keinen Tiefsinn gäbe, ohne den es kein Unglück gäbe. Nur zur Malerei haben die Deutschen kein Verhältnis, wahrscheinlich zu bunt.«
    Dick war in Fahrt. Er riß das Fenster herunter und brüllte etwas, das ich nicht verstand.
    Dann zog er den Kopf zurück. »Hitler ist auch eine Erfindung der Deutschen, wie Luther und die Atombombe. Die ersten Großraketen flogen von Deutschland aus, willst du noch mehr hören? Der Ottomotor zum Beispiel? Noch was? Vergleich mal soviel Kreativität mit dem, was wir geleistet haben.«
    »Tulpen, Käse und Fernsehmoderatoren, mehr fällt mir bei Holland nicht ein«, sagte ich. Er lachte kurz auf und ließ sich erschöpft auf das Polster fallen, in dem mehrere lange Messerschnitte klafften.
    Dann hing er wie ein Mehlsack in der Wagenecke am Fenster. Nur einmal rappelte er sich auf und deutete hinaus durch die schmutzige Scheibe. Draußen huschten Knicks vorbei und hin und wieder ein heruntergekommener Bauernhof.
    »Viele gute Verstecke«, sagte Dick. »Entsinnst du dich noch an die Kindheitszeiten, in denen man so gerne Verstecken spielt? In unserem Land nicht einfach, jedenfalls im Freien, bei dem Mangel an finsteren Ecken. Am wirkungsvollsten war noch die Methode, die Augen zuzukneifen und zu behaupten, man sei verschwunden. Weil man blind war, war man auch unsichtbar. Seltsame Logik der Kindheit. Ich glaube, hier leben sogar viele Erwachsene danach. Überhaupt ist es ein Land des Versteckens, das ganze Deutschland. Denk nur an die Juden, wo sie sich überall verstecken mußten, und an die Systemfeinde, an die Republikflüchtlinge. Es sollte mehr Dschungel geben hier.«
    Mein Freund schloß die Augen, als wollte er sich tatsächlich unsichtbar machen. Ich wischte die Scheibe von außen und innen klar. Die Wartburg schwebte wie eine tiefhängende Wolke vorbei. Hatte da nicht einst jemand sein Tintenfaß nach dem Teufel geworfen, ohne ihn zu treffen? Ein großer schwarzer Klecks an der Wand, vielleicht der Beginn der Schriftstellerei.
    Wir näherten uns der ehemaligen Grenze. »Dick«, sagte ich, »schön, daß wir beide heil herausgekommen sind.«
    »Wart’s ab, wir sind
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