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Blendwerk - Ein Piet-Hieronymus-Roman

Titel: Blendwerk - Ein Piet-Hieronymus-Roman
Autoren: PeP eBooks
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erwidert, »dort gibt es vermutlich kaum mehr Russen als hier, jedenfalls nicht nach der Wende.«
    Ihre tiefe Stimme, die so gar nicht zu ihrem gebrechlichen Körper paßt, klang zornig, als sie antwortete: »Das ist typisch für dich, die Dinge zu verharmlosen. Ich sage dir noch einmal, es sind Russen, die allermeisten jedenfalls. Russen können sich gut verstellen. Aber du erkennst sie an ihrem düsteren Blick. Russen gucken immer, als ob sie jemanden umgebracht hätten, und viele haben es auch.«
    Ich wußte, es war zwecklos, ihr zu widersprechen. Ich bedankte mich also für ihre Ratschläge und ging, wie immer zugleich enttäuscht und von Liebe bewegt.
    Wie viele meiner Landsleute verspüre ich zu Deutschland so etwas wie eine treue Haßliebe. Ich bewundere die deutsche Kultur, die Sprache, in der sich so vieles zwischen den Zeilen sagen läßt, vor allem aber verehre ich die Musik. Die Lieder zum Beispiel. Kein anderes Land hat Lieder hervorgebracht wie das »Heideröslein«, so duftend, so sanft. Aber ich fürchte auch die Dornen, die Gewalttätigkeit, die in jener unklaren Mischung aus Begabung und Untertanengeist schlummert.
    Diesmal würde ich also in den Osten dieser Nation reisen, die sich erst vor kurzem aus einer schizophrenen Doppelexistenz verabschiedet hatte. Vereinigungen sollten etwas höchst Erotisches sein, etwas, das wärmt und stark macht. In diesem Fall jedoch schien es sich, wie ich den Berichten der Medien entnahm, um eine Kernfusion zu handeln, die keine Energie freisetzte, sondern in großen Mengen verbrauchte.
    Ich kannte bisher nur die ehemalige Bundesrepublik. Ich hatte dort einige Male meinen Urlaub verbracht, am Rhein zumeist, zu dem wir Niederländer eine seltsam verbissene Liebe verspüren. Vielleicht, weil sein trübes Wasser zuletzt durch unsere Wiesen strömt mit seiner heimlichen Botschaft von Weinbergen, Märchen und schon auf der Höhe von Basel verlorengegangenem Gletschergrün.
    Auch jetzt hatte ich mich zu einem kleinen Umweg über den Rheingau entschlossen, obwohl der Brief meines Freundes recht bedrohlich geklungen hatte. Doch Hilferufe dieser Art sollten nicht zu übereiltem Handeln verleiten, sonst wird man von der in ihnen zumeist enthaltenen guten Portion Hysterie angesteckt.
    Als die Weinhänge des großen Vaters Rhein auftauchten mit all ihren wie Dekorationen wirkenden Spielzeugruinen, setzte ich mich in das Zugrestaurant und bestellte ein Viertel Weißen. Die Landschaft wirkte melancholisch in ihren ockerund blaugrauen Tönen, die mich an Bilder von Braque erinnerten. Ein wohliges Gefühl überkam mich in der Wärme des Speisewagens bei der sich in der Scheibe spiegelnden Tischlampe mit ihrem gelben Röckchen. Es war noch einer jener alten Waggons, die von der gastronomischen Idee eines rollenden Kellerrestaurants geprägt sind, eine Atmosphäre, in dem man Züricher Kalbsgeschnetzeltes essen muß.
    Eigentlich ist es ein Jammer, dachte ich, während ich das zweite Fläschchen bestellte und eine Portion Kalbsgeschnetzeltes, daß es den Namen Bundesrepublik nicht mehr gibt. Er hatte so etwas charmant Provisorisches, im Gegensatz zu »Deutschland«, diesem schwerblütigen Wort, das mit seiner geschichtlichen Tiefe, seinem dunklen Klang nach Wäldern, Wagner und Kant bei den Angehörigen eines kleinen Kaufmannsvolks fast zwangsläufig eine von Staunen und Mißtrauen marmorierte Bewunderung erwecken muß, denn wir haben solche Waren in unseren von Gewürzen, Fischen, Tulpenzwiebeln und Tomaten gefüllten Kellern nicht zu bieten. Gäbe es nur einen einzigen Weinberg in den Niederlanden, ich glaube, die Situation sähe völlig anders aus.
    In Aßmannshausen ging ich in dasselbe Hotel wie vor zwei Jahren. Damals war ich mit meiner letzten Freundin Ingrid dort gewesen, im Frühling. Ich nahm das gleiche Doppelzimmer, obwohl ich natürlich wußte, daß dies eine theatralische Geste war: ein leeres Bett neben sich als Liebeserklärung an jene ominöse Sehnsucht nach Gemeinsamkeit, die wir immer wieder vergeblich mit anderen zu teilen suchen. Ich ging auch in dasselbe Lokal und bestellte wieder Wildschweinsülze. Mit Remouladensoße und Bratkartoffeln. Es war keine Nostalgie. Nicht einmal Sentimentalität. Es war der Versuch eines mittelmäßigen Kriminalisten, endlich zu begreifen, wie es zu jener Untat gekommen war, die Ingrid und ich damals Liebe genannt hatten.
    Mit der Liebe ist es jedoch wie mit allen Geheimnissen: sie existieren nur so lange, wie man sich selber eines
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