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Blausäure

Blausäure

Titel: Blausäure
Autoren: Agatha Christie
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war, die Stirn runzelte. Mrs Drake selbst brachte es fertig, immer noch schwarzen Krepp für ihren verstorbenen Ehemann zu tragen, der vor über zwanzig Jahren dahingeschieden war.
    Etliche abgelegte Kleidungsstücke befanden sich, wie Iris wusste, oben in einer Truhe. Während sie auf der Suche nach ihrem Pullover darin wühlte, fielen ihr verschiedene Dinge in die Hand, lang schon in Vergessenheit geraten. Ein graues Kostüm, ein Haufen Strümpfe. Ihr Skianzug und einige altmodische Badetrikots.
    Plötzlich stieß sie auf einen alten Morgenmantel, der Rosemary gehört hatte. Aus irgendeinem Grund war er nicht zusammen mit ihren anderen Sachen fortgegeben worden. Es war ein Herrenmantel aus schwarz gefleckter Seide, mit großen aufgesetzten Taschen.
    Iris schüttelte ihn und bemerkte, dass er ausgesprochen gut erhalten war. Sorgfältig faltete sie ihn wieder zusammen und legte ihn in die Truhe zurück. Dabei fühlte sie in einer der Taschen etwas knistern. Sie fuhr mit der Hand hinein und zog ein zerknittertes Stück Papier heraus, auf dem etwas in Rosemarys Handschrift stand. Sie strich es glatt und las.
     
    Mein liebster Leopard, es kann nicht dein Ernst sein… Unmö g lich – das kannst du nicht meinen… Wir lieben uns doch! Wir gehören zusammen! Und das weißt du genauso gut wie ich! Wir können uns nicht trennen und dann einfach weiterleben und so tun, als wäre nichts gewesen. Du weißt genau, dass das nicht geht, Liebster – es ist völlig unmöglich! Du und ich – wir gehören z u sammen – für immer und ewig. Ich pfeife auf die Konventionen – ist mir doch egal, was die Leute sagen. Nur die Liebe zählt! Lass uns zusammen weggehen – und glücklich sein – ich mache dich bestimmt glücklich. Du hast mir einmal gesagt, dass dein Leben ohne mich nur Staub und Asche sei – erinnerst du dich daran, mein liebster Leopard? Und jetzt schreibst du mir so ruhig dass es zwischen uns aus sein müsse – dass das besser für mich wäre. Besser für mich? Aber ohne dich kann ich nicht leben! Sicher, George tut mir Leid – er war immer gut zu mir – aber er wird es schon verstehen. Er wird meiner Freiheit nicht im Wege stehen wollen. Es ist nicht richtig zusammenzubleiben, wenn man sich nicht mehr liebt. Gott hat uns füreinander bestimmt, Liebster – das weiß ich ganz sicher. Wir werden so glücklich sein – aber nur, wenn wir tapfer sind. Ich werde es George selber sagen – ich will ihm reinen Wein einschenken – aber erst nach meinem G e burtstag.
    Ich weiß, dass ich das Richtige tue, liebster Leopard – und dass ich ohne dich nicht leben kann. Nein, nein, nein – ich kann es nun einmal nicht! Entschuldige dies dumme Geschreibsel. Zwei Sätze hätten ja genügt: Ich liebe dich. Und: Ich lasse dich nicht gehen. Punkt. Ach Liebster –
     
    Hier brach der Brief ab.
    Iris stand bewegungslos da und starrte auf das Papier.
    Wie war es möglich, so wenig von der eigenen Schwester zu wissen!
    Rosemary hatte also einen Geliebten gehabt – hatte ihm leidenschaftliche Liebesbriefe geschrieben – hatte vorgehabt, mit ihm auf und davon zu gehen?
    Was war geschehen? Rosemary hatte diesen Brief nicht abgeschickt – welchen dann? Zu welchem Schluss waren Rosemary und dieser unbekannte Fremde schließlich gekommen?
    («Leopard!» Was Verliebten so alles einfiel! So etwas Albernes! «Leopard!» Das war doch wirklich das Letzte!)
    Wer war dieser Mann? Hatte er Rosemary genauso geliebt wie sie ihn? Ach, bestimmt. Rosemary war so unvorstellbar hübsch gewesen. Und doch, aus dem Brief ging hervor, dass er die Beziehung beenden wollte. Daraus sprach – was? Vorsicht? Offenbar hatte er angedeutet, die Trennung sei ihretwegen nötig. Aber sagten Männer solche Dinge nicht auch, um selbst ungeschoren davonzukommen? Bedeutete es nicht in Wirklichkeit, dass der Mann, wer immer es war, mit der Geschichte fertig war? Vielleicht war es für ihn nur eine flüchtige Affäre gewesen. Vielleicht hatte er es nie wirklich ernst gemeint. Aus irgendeinem Grund hatte Iris den Eindruck, dass der unbekannte Mann fest entschlossen gewesen war, sich endgültig von Rosemary zu trennen…
    Aber Rosemary hatte etwas anderes gewollt, koste es, was es wolle! Rosemary war ebenfalls fest entschlossen gewesen…
    Iris fröstelte.
    Und sie selbst hatte von alledem nichts gewusst! Hatte nicht das Geringste geahnt! Hatte es als selbstverständlich angenommen, dass Rosemary glücklich und zufrieden war, dass George und sie einander genügten.
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