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Blausäure

Blausäure

Titel: Blausäure
Autoren: Agatha Christie
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derselben Mutter. Warum hatte Onkel Paul Rosemary sein ganzes Vermögen vermacht?
    Rosemary hatte immer alles gehabt!
    Partys und schöne Kleider und junge Männer, die sich in sie verliebten. Und einen treu sorgenden Ehemann.
    Das einzige Unangenehme, das ihr je widerfuhr, war ein grippaler Infekt! Und nicht einmal der hatte länger als eine Woche gedauert!
    Iris stand zögernd an Rosemarys Schreibtisch. Dieser Briefbogen – er war doch nicht für die Augen des Personals bestimmt?
    Sie zögerte einen Moment, dann nahm sie das Blatt, faltete es in der Mitte zusammen und ließ es in eine der Schubladen gleiten.
    Dort wurde es nach der fatalen Geburtstagsfeier gefunden; ein weiteres Beweisstück – falls ein Beweis überhaupt notwendig war – für Rosemarys depressiven Gemütszustand nach ihrer Krankheit. Vermutlich hatte Rosemary also damals schon an Selbstmord gedacht.
    Depressive Verstimmung nach einer Grippe. Das war das Motiv, von dem die Ermittlungen ausgingen. Auch ihre eigene Aussage hatte es untermauert. Vielleicht war das Motiv nicht ganz adäquat, aber es war das einzige, das man hatte. Und also wurde es akzeptiert. Die Grippe in jenem Jahr war eben besonders heimtückisch gewesen.
    Weder Iris noch George Barton hätten mit irgendeinem anderen Motiv aufwarten können – vor einem Jahr.
    Jetzt, da sie über den Vorfall auf dem Dachboden nachdachte, fiel es Iris wie Schuppen von den Augen. Wie hatte sie nur so blind sein können!
    Das Ganze musste sich direkt vor ihren Augen abgespielt haben! Und sie hatte überhaupt nichts gesehen! Hatte nicht das Geringste bemerkt!
    Ihre Erinnerung setzte sich mit raschem Sprung über die Tragödie bei der Geburtstagsfeier hinweg. Kein Grund, daran zu denken! Das war vorbei – abgeschlossen. Solche Schrecken musste man verdrängen, ebenso wie alles, was mit der gerichtlichen Untersuchung zusammenhing – Georges nervöses Zucken, seine blutunterlaufenen Augen… Am besten stieß sie gleich zu dem Vorfall mit dem Koffer auf dem Dachboden vor.
     
     
    II
     
    Es war etwa sechs Monate nach Rosemarys Tod gewesen.
    Iris wohnte weiterhin am Elvaston Square. Nach der Beerdigung hatte der Familienanwalt der Maries eine Unterredung mit ihr gehabt. Er war ein Gentleman der alten Schule, mit blank polierter Glatze und überraschend schlauem Blick. Mit bewundernswerter Präzision erklärte er ihr, dass Rosemary, entsprechend Paul Bennetts letztem Willen, dessen Vermögen zur treuhänderischen Verfügung geerbt hatte, um es im Falle ihres Todes ihren Kindern zu hinterlassen. Für den Fall aber, dass Rosemary kinderlos starb, ging das gesamte Vermögen ohne Einschränkung an ihre Schwester. Es war ein sehr großes Vermögen, wie der Anwalt erklärte. Und sobald Iris volljährig war, mit einundzwanzig also, oder wenn sie heiratete, gehörte es ihr.
    Zunächst einmal müsse sie sich Gedanken über ihren Wohnsitz machen. Ihr Herr Schwager, George Barton, habe darauf bestanden, dass sie weiterhin bei ihm leben möge. Er habe ferner den Vorschlag gemacht, die Schwester ihres Vaters, eine Mrs Drake, zu sich zu nehmen; sie war auf Grund der ewigen Geldforderungen ihres Sohnes, der das schwarze Schaf der Familie Marie war, in finanzielle Schwierigkeiten geraten. Mrs Drake könnte ihr als Anstandsdame dienen, vorausgesetzt, Iris wäre einverstanden.
    Iris akzeptierte den Vorschlag nur zu gern, froh darüber, keine neuen Pläne treffen zu müssen. Sie erinnerte sich an Tante Lucilla – ein liebenswürdiges Schaf, das alles tat, was man von ihm verlangte.
    So war es beschlossene Sache. George Barton war auf geradezu anrührende Weise erfreut, die Schwester seiner Frau immer noch in seiner Nähe zu haben. Er behandelte sie so liebevoll, als wäre sie wirklich seine jüngere Schwester. Und auch wenn Mrs Drakes Gesellschaft alles andere als anregend war, so ordnete sie sich doch ganz Iris’ Bedürfnissen unter. Im Haus kehrte Frieden ein.
    Etwa sechs Monate später machte Iris ihre Entdeckung auf dem Dachboden.
    Dort wurde allerlei Krempel aufbewahrt, Möbel, etliche Kisten und Kasten. Eines Tages war Iris hochgestiegen, nachdem sie überall vergeblich nach einem alten roten Pullover gesucht hatte, den sie besonders gern trug. George hatte sie gebeten, keine Trauerkleidung für Rosemary zu tragen. Sie habe diese Sitte immer abgelehnt, meinte er. Iris wusste, dass das stimmte. Sie fügte sich also und trug weiter ihre Alltagskleidung, auch wenn Lucilla Drake, altmodisch und spießig, wie sie
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