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Blaue Wunder

Blaue Wunder

Titel: Blaue Wunder
Autoren: Ildikó von Kürthy
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insgesamt einer ernsthaften psychischen Störung ähneln. Aber mir ist egal, ob ich krank bin, wenn die Begleiterscheinungen - an dieser Stelle sei das Zauberwort Appetitlosigkeit erwähnt - allesamt so attraktiv sind. Ich meine, ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal gesagt habe: «Ich bin satt.» Schon gar nicht, während ich vor einem Teller Lasagne gesessen habe. Wann bin ich das letzte Mal lächelnd aufgewacht? Wann habe ich das letzte Mal auf dem Klo gesungen? Wann hat eine Tafel Vollmilchschokolade mit ganzen Nüssen in meiner Gegenwart länger überlebt als ein paar Stunden? Das sind doch Beschwerden, die man möglichst ein Leben lang behalten will!
    Ich sollte mir eine Decke holen, aber ich bin zu faul und zu glücklich, um jetzt die Treppe zum Wohnzimmer runterzusteigen. Nehme lieber noch ein Schlückchen Wein, bestimmt ein guter.
    Ich stelle mir vor, wie Martin den Abendrothsweg entlanggeht. Fünfhundert Meter bis zur Kreuzung. Wie er die sechsspurige Hoheluftchaussee überquert. Wie er die Videothek betritt und keine Ahnung hat, dass mein Zimmer direkt darüber liegt. Warum hätte ich ihm davon erzählen sollen? Diese Bleibe ist sowieso nur eine Übergangslösung, wie ich hoffe. Und Martin hat nie nachgefragt. Als wir uns kennen lernten, hatte ich meine genaue Adresse nicht parat, und als wir uns besser kennen lernten, schämte ich mich für meine genaue Adresse ein bisschen.
    «Ich wohne vorübergehend bei einer Freundin, bis ich was Eigenes habe.» Damit hatte er sich zufrieden gegeben. Dass es sich bei der Freundin um einen untersetzten und massiv neurotisch veranlagten halb türkischen Homosexuellen handelt, hatte ich vorsichtshalber verschwiegen. Auch hatte ich nicht erwähnt, dass ich nur sechshundert Meter Luftlinie von Martins Dachgeschosswohnung entfernt lebe, aber dennoch in einer anderen Welt, nämlich auf achtzehn Quadratmetern, im ersten Stock. Mein Zimmer ist das nach vorne raus, mit Doppelverglasung und Aussicht auf die zwei Busspuren und die Aral-Tankstelle gegenüber.
    Warum den Mann, den man liebt, gleich zu Anfang überfordern? Man erzählt ja auch nicht beim ersten Date, dass man einen eingewachsenen Zehennagel hat, vier Jahre vergebliche Therapieerfahrung und einen Vetter, der bei Jeanette Biedermann Schlagzeuger ist. Solcherlei die knospende Beziehung unnötig belastenden Informationen muss man behutsam dosieren. Außerdem hege ich die heftige Hoffnung, dass meine Geheimniskrämerei in absehbarer Zeit von ganz allein unnötig werden wird.
    Nicht, dass ich diese Hoffnung zu diesem Zeitpunkt irgendeinem Menschen gegenüber laut ausgesprochen hätte, aber für mich stellen sich die Tatsachen derzeit folgendermaßen dar: Unsere Liebe ist groß und seine Wohnung auch, und in den letzten zwei Wochen war ich sowieso kaum in meinem eigenen Zimmer. Natürlich habe ich gelesen, dass man eine junge Beziehung nicht mit zu hohen Erwartungen überfrachten soll. Aber was soll ich machen? Soll ich die Lässige spielen, die an ihrer Unabhängigkeit und ihrem Beruf hängt? Die die ganze Sache lieber langsam angehen lassen und sich zunächst allein durchschlagen möchte? Soll ich, wenn er mir anbietet, bei ihm einzuziehen, sagen: «Danke, Liebling, aber ich will mich nicht ins gemachte Nest setzen»?
    Verdammt, was ist so schlimm an gemachten Nestern? Warum darf man es nicht gut haben, ohne dass man es vorher schlecht hatte? Ich habe keine Lust auf Umwege. Warum achtzehn Stunden Wehen aushalten, wenn mit einem Kaiserschnitt alles in dreißig Minuten erledigt ist? Ist doch wahr. Mich hat der Blitz getroffen. Ich will alles überstürzen. Ich will unvernünftig sein. Ehrlich, ich würde nichts lieber tun als auf dieser Dachterrasse bis an mein Lebensende Solitärpflanzen in Terrakottagefäße topfen und umschulen von Reisebürokauffrau auf Spätgebärende.
    Ich schaue nochmal in die Weite mit einem Blick, wie ich ihn von den Hauptdarstellerinnen aus ZDF-Filmen kenne, die     Tagebuchmädchen, das waren die, die
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