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Blamage!

Blamage!

Titel: Blamage!
Autoren: Christian Saehrendt
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dazuzugehören). Dies scheint eminent wichtig zu sein in einer Zeit, in der die »Impressions-Management-Strategien« und die »Kompetenzdarstellungskompetenz« des Einzelnen unverzichtbar geworden sind – schließlich zählt Selbstdarstellung und Imagepflege zu den Schlüsselqualifikationen der Gegenwart. So wird das Streben nach dem perfekten, stets »professionellen« Verhalten zur Zwangsjacke, zum Dressurakt.
    Dabei hat die Blamage durchaus auch ihren Wert. Denn wer die Selbstkontrolle im Alltag allzu stark perfektioniert, bringt sich um den Nutzen der als peinlich empfundenen Emotionen. Und derartige Gefühle dienen als elementare, spontane Lagebeurteilungen des Individuums im Zusammenspiel mit seiner Umgebung. Auf diese Weise beraubt man sich einer wichtigen sozialen Orientierungshilfe, wie auch der Soziologe und Gestalttherapeut Hans Peter Dreitzel meint. 96 Für all die Schüchternen und Gehemmten, die Perfektionisten, die zwanghaft Ordentlichen und Oberkorrekten sollte daher nicht ein weiterer Knigge unter dem Weihnachtsbaum oder auf dem Geburtstagstisch liegen. Vielleicht sollten sie eher dem unorthodoxen Ratschlag folgen, der da lautet: »Blamieren Sie sich dreimal täglich!« Denn in der Blamage liegt auch eine Art der Befreiung.
    Das hört sich in der Theorie plausibel an, doch in der Realität ist es freilich nicht so einfach, seine Hemmungen, eingefahrenen Verhaltensweisen und Ängste zu überwinden. Abhilfe schaffen hier vielleicht einige bewährte Techniken aus der kognitiven Verhaltenstherapie: Zunächst geht es darum, die eigene Befangenheit oder Selbstaufmerksamkeit durch bestimmte Übungen nach und nach abzubauen. Denn der nach innen gerichtete Blick lässt die eigene Befindlichkeit als enorm wichtig erscheinen und wirkt so wie ein Hindernis, die Außenwelt objektiv wahrzunehmen oder gar mit anderen in Verbindung zu treten. Stattdessen gilt es, die Aufmerksamkeit auf andere Dinge, auf andere Menschen zu lenken. Stellen Sie sich also kleine Aufgaben, um die Beobachtungsgabe zu trainieren, achten Sie auf das Verhalten und die Sprache der anderen, versuchen Sie, Feinheiten und individuelle Unterschiede herauszuhören.
    Ein wichtiger nächster Schritt besteht im Ausprobieren neuer Dinge und Handlungen. Stellen Sie sich im Alltag stets Aufgaben mit steigenden »Risiken« und stufenweise erhöhtem Peinlichkeitsfaktor. Therapeuten empfehlen, »Experimente« durchzuführen, um sich mit schwierigen Situationen zu konfrontieren, statt sie (wie bisher) zu vermeiden. Als Voraussetzung dazu sollten Sie aber zunächst erkennen, was Sie vermeiden und mit welchen Vermeidungsstrategien Sie bisher gearbeitet haben. Dann gilt es, die Angst vor der Blamage zu identifizieren und möglichst detailliert zu definieren, was Sie in peinlichen Situationen erwarten. Schließlich folgt der Sprung ins kalte Wasser. Der wichtigste und entscheidende Schritt ist nämlich, planmäßig peinliche Situationen herbeizuführen, und sie anschließend zu bewerten. »Verschärfend« können Sie noch die Symptome des Peinlichkeitsempfindens wie Zittern oder Stammeln bewusst verstärken und dann beobachten, was passiert, wie die Mitmenschen reagieren. Und vor allem, fragen Sie sich: Tritt die Katastrophe, die Sie befürchtet haben, wirklich ein?
    Sie werden sehen: Womöglich ist die Blamage gar keine Katastrophe, sondern eine Chance, eine Option in Ihrem Leben, die Sie bisher noch nicht genutzt haben. Natürlich ist es ein unangenehmes Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben, etwas nicht gewusst oder gekonnt zu haben. Doch gerade Fehler sind extrem nützlich, weil man aus ihnen lernen kann. Wer nie etwas falsch macht, hält sich vielleicht vordergründig für kompetent und erfolgreich, tatsächlich aber erstarrt er in Routine, wird geistig immer unbeweglicher und auf schleichende Weise unfähiger. Und das, ohne es selbst zu bemerken. Der peinliche Zwischenfall, das Aus-dem-Takt-Geraten, das Gefühlschaos ist manchmal genau die produktive Irritation, die wir brauchen – eine Chance, uns über bestimmte Dinge bewusst zu werden und sie zu verändern.
    Wer lebt, macht Fehler.
    Und: Ist das Leben nicht eine einzige Blamage?
    Also, liebe Leserinnen und Leser: Blamiert Euch!

Quellennachweis
    Kapitel 1:
Panorama der Peinlichkeiten I – Flirten & Feiern
    1 Justins Sprüchesammlung, in: Susan Black (Hg.), Justin
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