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Blamage!

Blamage!

Titel: Blamage!
Autoren: Christian Saehrendt
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Phänomene haben womöglich die gleiche Ursache.
    Der offensive, provokative Umgang mit Scham und Peinlichkeitsgefühlen steht im Alltag nur denjenigen zur Verfügung, die bereit sind, die eine Peinlichkeit durch eine noch größere zu ersetzen. Zur lautstarken Kraftmeierei, die oft nur so etwas wie ein ängstliches Pfeifen im Walde darstellt, gibt es eine Alternative, die ebenso weit verbreitet ist: die Strategie der Coolness. Selbstbeherrschung ist eine alte Kulturtechnik, die bereits bei den Alten Griechen als Stoa bekannt war. Die Affektkontrolle diente dazu, schwierige Lagen und Stress zu meistern, mithin das Überleben zu sichern, wobei dieses Konzept drei Bereiche kannte: Gezügelte Leidenschaft (Apathie), Selbstgenügsamkeit (Autarkie) und Unerschütterlichkeit (Ataraxie). Auch in späteren historischen Situationen wurde die Psychotechnik der Gefühlsbeherrschung überlebensnotwendig, etwa in der Zeit der amerikanischen Sklaverei, in der die afrikanischen Sklaven ihre Wut und Auflehnung nicht offen zeigen konnten, um nicht sofort Gewalt und Strafe auf sich zu ziehen, oder etwa in der Zeit der Weltkriege, als das grausige Kriegserlebnis von Ernst Jünger und anderen Schriftstellern und Künstlern in einer scheinbar gefühllosen, »wissenschaftlichen« und ästhetisierenden Weise beschrieben und bewältigt wurde. Im 19. Jahrhundert, das noch stark von der französischen Kultur geprägt war, galt das Konzept der Contenance als vorbildlich: »Was die Franzosen Contenance nennen, Haltung und Harmonie im äußern Betragen, Gleichmütigkeit, Vermeidung alles Ungestüms, aller leidenschaftlichen Ausbrüche und Übereilungen, dessen sollte sich vorzüglich ein Mensch von lebhaftem Temperamente befleißigen«, empfahl Adolph Freiherr von Knigge im Jahr 1808 seinen deutschen Lesern. 92 Die Wahrung der Contenance versprach in vielen Situationen eine pschologische Überlegenheit und konnte Misverständnisse und Eskalationen vermeiden. Zudem galt sie als Mittel der Distinktion gegenüber den ungehobelten, impulsiv agierenden Unterschichten.
    Die »Coolness« trat im 20. Jahrhundert das Erbe der Contenance an. Auch für die britisch geprägte Welt, einschließlich der amerikanischen Mittelschicht, war nach der Auflösung der viktorianischen Werteordnung ein neuer Verhaltensmodus notwendig geworden, ein neues Gefühlsmanagement: »Coolness ist zum emotionalen Deckmantel geworden, der die gesamte Persönlichkeit vor dem peinlichen Übermaß an Gefühlen schützt«, so der amerikanische Historiker Peter N. Stearns, für den Coolness ein wichtiger emotionaler Stil des 20. Jahrhunderts gewesen ist. 93
    Die demonstrative Selbstbeherrschung tritt in der Moderne und Postmoderne stets im Zusammenhang mit einer ästhetischen Inszenierung auf – zum entsprechenden Auftritt gehören Mode und Haltung, lässige Gestik und kontrollierte Mimik, Stil bzw. absichtlicher Stilbruch, »coole« Sprache oder Schweigsamkeit. Zum Coolsein der 1960er oder 1980er gehörte es eben auch, dabei gut auszusehen. Nach einer dominanten und letztlich zur Masche verflachten Coolness der 1980er kam es in den letzten Jahren verstärkt zu einer Neuentdeckung des Stoa-Konzeptes, wenn auch versehen mit fernöstlichen spirituellen Elementen. »Coole Attribute und Strategien«, so Annette Geiger in ihrer medientheoretischen Abhandlung über Coolness, gingen in die »Lebenskunst- und Meditationstechniken eines westlich verwässerten Wellnessbuddhismus« ein. 94 Die geborgte asiatische Weisheit und die kommerziell vermarktete »Innere Ruhe« des Esoterikzeitalters tragen heutzutage das Erbe von Coolness und Contenance in sich.
    Coolness als Lebensform – das war und ist stets eine Gratwanderung. Einerseits bewegt sich diese Art von Selbstinszenierung oftmals nahe der Selbstzerstörung. Andererseits ist sie aber auch ein Akt der Selbstbehauptung und -stabilisierung. Dabei sind Vorbilder in Film und Musik äußerst wichtig. Sie liefern die Muster, nach denen sich dann Unzählige als »cool« inszenieren, mithilfe der Mode, der Musik, der übernommenen Ausdrucksweise oder gar der Art zu rauchen. Letztlich stellt sich aber bei den zahlreichen Abziehbildern von Humphrey Bogart, John Travolta, den Blues Brothers, Eminem oder 50 Cent die Frage, inwieweit hier noch ein authentisches Wesen zum Vorschein kommt, oder ob es
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