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Black Box

Black Box

Titel: Black Box
Autoren: Joe Hill
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wenig spöttisch, so als hätte ich wissen müssen, worüber er da redete. Er ging an mir vorbei zum Maschendrahtzaun und legte einen Schalter um. In der anderen Hälfte des Kellers gingen die Lichter an. Jenseits des Maschendrahts erstreckte sich nackter Beton, unter einer Decke, über die sich Leitungen und Rohre schlängelten. Und diese ganze große Fläche war mit Kartons übersät, die zu einer riesigen, chaotischen Festung angeordnet waren, wie ein Kind sie gebaut haben könnte. Die Pappfestung hatte mindestens vier verschiedene Eingänge und Tunnel, Rutschen und Fenster. Die Kisten waren mit grünen Farnen und wogenden Blumen bemalt und mit Marienkäfern so groß wie Kuchenplatten.
    »Ich würde gern mal meine Kinder hierher mitnehmen«, sagte Prine. »Die könnten da drin herumkriechen. Das würde ihnen bestimmt Spaß machen.«
    Ich wandte mich ab und ging langsam zur Treppe hinüber. Ich zitterte am ganzen Leib, mir war kalt, und mein Atem ging schwer. Dann, als ich mich an George Prine vorbeischob, packte ich ihn unvermittelt am Arm und drückte ihn vielleicht etwas stärker, als ich vorgehabt hatte.
    »Halten Sie Ihre Kinder davon fern«, sagte ich mit ersticktem Flüstern.
    Er nahm mein Handgelenk und zog sanft, aber bestimmt, meine Hand fort. Sein Blick hielt mich auf Distanz; er musterte mich mit gelassener, argwöhnischer Miene, wie jemand, der eine Schlange im Auge behielt, die er im Unkraut gefunden hatte und die er direkt hinter dem Kopf packte, damit sie ihn nicht biss.
    »Sie sind wohl ebenso verrückt wie er«, sagte er. »Haben Sie sich schon mal überlegt, hier einzuziehen?«
     
    Ich habe diese Geschichte so vollständig erzählt, wie es mir möglich ist, und jetzt möchte ich abwarten, ob meine Beichte mir hilft, Eddy Prior wieder in mein Unterbewusstsein zurückzudrängen. Ob es mir gelingt, wieder zu meinen Gewohnheiten und alltäglichen Abläufen zurückzukehren: zu den Seminaren, Referaten, Vorlesungen und Veranstaltungen der Anglistikfakultät. Ob es mir gelingt, die Mauer Ziegelstein um Ziegelstein wieder aufzubauen.
    Aber ich weiß nicht, ob ich das, was da niedergerissen wurde, wieder aufrichten kann. Der Mörtel ist zu alt, die Mauer zu schlecht gebaut. Mein Bruder war eben immer der bessere Baumeister. In letzter Zeit habe ich der Bibliothek meiner alten Heimatstadt Pallow immer mal wieder einen Besuch abgestattet, um alte Zeitungen auf Mikrofiche zu überfliegen. Ich habe nach einem Artikel gesucht, nach einem kurzen Bericht über einen Unfall auf der 111 – ein Ziegelstein, der durch eine Windschutzscheibe gefallen, ein Volvo, der von der Straße abgekommen ist. Ich wollte herausfinden, ob irgendjemand schwer verletzt wurde, ob irgendjemand ums Leben kam. Früher war das Nichtwissen meine Zuflucht. Inzwischen kann ich es nicht mehr ertragen.
    Also wird sich womöglich irgendwann einmal herausstellen, dass ich das alles doch für jemand anderen geschrieben habe. Mir ist der Gedanke gekommen, dass George Prine vielleicht gar nicht so unrecht hatte. Vielleicht sollte ich diese Geschichte Betty Millhauser zeigen, Morris’ ehemaliger Pflegedienstleiterin.
    Wenn ich im Wellbrook wohnen würde, könnte ich zumindest eine Verbindung zu Morris spüren. Ich würde mich sehr gern jemandem oder etwas verbunden fühlen. Sie könnten mir sein altes Zimmer geben. Sie könnten mir seinen Job geben – und seinen alten Spind.
    Und wenn das nicht genügt – wenn ihre Drogen und ihre Therapien und die Isolation mich nicht vor mir selbst retten können –, dann gibt es immer noch eine andere Möglichkeit. Wenn George Prine Morris’ letztes Kartonlabyrinth noch nicht abgerissen hat, wenn es noch immer dort unten im Keller steht, könnte ich jederzeit hineinkriechen und die Klappen hinter mir zuziehen. Diese Möglichkeit bleibt mir auf jeden Fall. Alles kann in der Familie liegen – sogar die Fähigkeit zu verschwinden.
    Aber noch werde ich diese Geschichte für mich behalten. Ich werde sie in einen braunen Umschlag stecken und diesen Umschlag in die rechte untere Schublade meines Schreibtisches legen. Ich werde sie beiseitetun und versuchen, mit meinem Leben dort weiterzumachen, wo ich aufgehört habe, kurz bevor Morris verschwunden ist. Ich werde die Geschichte niemandem zeigen und keine Dummheiten machen. Ich kann noch eine ganze Weile so weiterleben, mich durch die Finsternis hangeln, durch die engen Räume meiner Erinnerung. Wer weiß schon, was hinter der nächsten Ecke auf mich wartet? Ein
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