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Black Box

Black Box

Titel: Black Box
Autoren: Joe Hill
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Schoß.
    Ich lebe in Boston, fast eine Stunde vom Wellbrook entfernt. Ich hatte mir angewöhnt, meinen Bruder jeden dritten Samstag im Monat zu besuchen. Morris hatte viel für geregelte Abläufe und Gewohnheiten übrig. Es gefiel ihm zu wissen, wann ich kommen würde. Wir gingen gemeinsam spazieren. Er bastelte mir eine Brieftasche aus Isolierband und einen Hut, der mit seltenen Flaschendeckeln vollgeklebt war. Ich weiß nicht, was aus der Brieftasche wurde. Der Hut liegt auf meinem Aktenschrank, in meinem Büro hier in der Universität. Manchmal nehme ich ihn herunter und stecke meine Nase hinein. Er riecht nach Morris, der, um ehrlich zu sein, den Geruch aller staubtrockenen Keller dieser Welt verströmte.
    Morris hatte eine Stellung bei der Reinigungsabteilung des Wellbrook angenommen, und das letzte Mal, als ich ihn besuchte, war er gerade bei der Arbeit. Ich war zufällig in der Gegend und sah an einem Werktag bei ihm vorbei, eine einmalige Abweichung von der Norm. Man schickte mich zur Ladezone hinter der Cafeteria.
    Er war in einer Gasse neben dem Mitarbeiterparkplatz, hinter einem Müllcontainer. Das Küchenpersonal hatte leere Kartons dorthin geworfen, und sie bildeten an der Wand eine riesige Verwehung. Morris sollte sie nun zusammenlegen und für den Recyclinglaster verschnüren.
    Es war Frühherbst, in den Kronen der gewaltigen Eichen hinter dem Gebäude zeigten sich erste rostfarbene Blätter. Ich blieb an einer Ecke des Containers stehen und beobachtete ihn eine Weile. Er hatte mich nicht bemerkt. Mit beiden Händen hielt er eine große weiße Kiste, die an beiden Enden offen war, drehte sie hin und her und starrte ausdruckslos hindurch. Sein hellbraunes Haar stand hinten in einer Tolle ab. Er sang vor sich hin, mit leiser Stimme und ein bisschen falsch. Als ich hörte, was er da sang, wurde mir schwindlig. Ich griff nach dem Rand des Containers, um mich festzuhalten.
    » Die Ameisen marschieren … immer eine hinter der andern … « , sang er, während er die Kiste in einem fort in den Händen drehte. » Hurra. Hurra! «
    »Hör auf damit!«, rief ich.
    Er wandte sich um und starrte mich an – erst ohne mich zu erkennen, hatte ich den Eindruck. Dann klärte sich sein Blick, und seine Mundwinkel zogen sich zu einem Lächeln nach oben. »Ach, hallo, Nolan. Möchtest du mir helfen, die Kartons zusammenzulegen?«
    Mit weichen Knien ging ich zu ihm. Wie lange hatte ich schon nicht mehr an Eddy Prior gedacht? Auf meinem Gesicht trat der Schweiß hervor. Ich nahm einen Karton, drückte ihn flach und legte ihn auf den Stapel.
    Wir plauderten eine Weile miteinander, aber ich weiß nicht mehr, worüber. Wie es so laufe. Wie viel Geld er gespart habe.
    »Erinnerst du dich noch an die Festungen, die ich immer gebaut habe? Im Keller?«, fragte er schließlich.
    Ein eisiges Gefühl, wie eine schwere Last, drückte mir von innen gegen die Brust. »Klar. Warum?«
    Er legte eine weitere Kiste zusammen. Dann fragte er: »Meinst du, ich hab ihn umgebracht?«
    Ich bekam kaum noch Luft. »Eddy Prior?« Mir wurde schon schwindlig, wenn ich nur seinen Namen aussprach. Eine entsetzliche Leichtigkeit legte sich mir um die Schläfen, kroch mir in den Kopf.
    Morris starrte mich verständnislos an und schürzte die Lippen. »Nein. Dad.« Als wäre das nicht offensichtlich gewesen. Dann wandte er sich wieder um, hob eine weitere längliche Kiste auf und betrachtete sie nachdenklich. »Dad hat mir immer Kartons von der Arbeit mitgebracht. Er wusste genau, wie aufregend es war, eine Kiste in Händen zu halten und nicht genau zu wissen, was in ihr drin ist. Was in ihr drin sein könnte. Eine ganze Welt könnte darin eingeschlossen sein. Wer kann das schon sagen? Von außen sehen sie alle gleich aus.«
    Inzwischen hatten wir die meisten Kartons flach aufeinandergestapelt. Wenn wir damit nur endlich fertig wären und hineingehen könnten! Tischtennis spielen und diesen Ort und diese Unterhaltung hinter uns lassen. »Sollst du das alles nicht zu einem Bündel verschnüren?«
    Er betrachtete den Kistenstapel einen Moment lang und sagte dann: »Vergiss die Schnur. Keine Sorge – lass einfach alles so liegen. Ich kümmere mich später darum.«
    Als ich schließlich ging, dämmerte es bereits. Der Himmel über dem Wellbrook war stumpf und wolkenlos, eine blassviolette Fläche. Morris stand am Erkerfenster des Gemeinschaftsraums und winkte mir zum Abschied. Ich hob die Hand und fuhr davon, und drei Tage später rief man mich an, um mir
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