Bittersüße Heimat.
sei die Familie, die Gemeinschaft. Von früh auf werde jedem beigebracht: Die Familie sorgt für dich, die Familie schützt dich, die Familie ist das, was du bist. Aber in Wahrheit sei die Familie auch ein Kontrollsystem, in dem das Wort der Väter Gesetz ist und die Brüder die Wächter ihrer Schwestern sind. »Nur ein kleines Erlebnis, das dazu passt: Als mich mein jüngerer Bruder vor einigen Wochen nach einem Besuch in Istanbul ins Taxi zum Flughafen setzte und nicht mitfuhr, fragte mich der Taxifahrer: Wer war das, Abla? Mein Bruder, antwortete ich ihm. Er sah mich an: Das soll ein Bruder sein? Der Sie allein auf die Reise schickt? Ich entgegnete: Ja, er muss doch zur Arbeit, und ich komme auch allein zurecht. Er schüttelte den Kopf und meinte: Was gibt es Wichtigeres, als auf die Schwester aufzupassen? Da s ist doch seine Arbeit.«
Afyon ist eine Stadt mit vormodernen Werkstätten und Plattenbauten um die verwinkelte Altstadt, dazwischen einige wenige neue Internetcafés und eine Einkaufsstraße. Der Einfluss des Islam ist unschwer schon im Straßenbild an den vielen verschleierten Frauen zu erkennen, die mal unsicher, oft aber geradezu demonstrativ ihren Türban und den langen Mantel tragen, als wollten sie allen anderen damit ein Zeichen geben: Seht her, wir sind rein, und wir sind da. Dabei sind die Kopftücher, die die Gesichter einschnüren, und die schlecht geschnittenen farblosen Mäntel, die die Körper verbergen sollen, modisch das Unvorteilhafteste, was Schneider je zusammengenäht haben – nur noch übertroffen von dem schwarzen Zelt, dem Tschador, der die Frauen total verhüllt und zu einem entpersönlichten Nichts macht.
Die Botschaft des Islam tönt bereits bei Sonnenaufgang von den Minaretten der zahlreichen Moscheen, die fünfmal am Tag – wie inzwischen in jedem Winkel der Türkei – über laute, schnarrende Lautsprecher Allah als einzigen Gott und Mohammed als seinen Propheten ausrufen, ganz so, als könnte jemand das über Nacht vergessen haben.
Afyon ist ziemlich übersichtlich. Man »kümmert« sich und hält das für Fürsorge. Tatsächlich ist es eine Kultur der Kontrolle unddes Misstrauens, die die gesamte Gesellschaft beherrscht und besonders in kleineren Städten wirkungsvoll funktioniert. Jeder überwacht jeden und fühlt sich dazu auch berechtigt. Der Koran »gebietet, was recht ist, und verbietet, was verwerflich ist«. Aus diesem Vers leiten die muslimischen Männer seit über tausend Jahren das Recht ab, über andere zu bestimmen. Und über die zu reden, denen sie Verstöße gegen Sitte, Tradition, Glauben unterstellen. Es gibt Tausende – geschriebene und ungeschriebene – Gesetze, Gebote und Verbote, die das soziale Leben bestimmen, auch den Alltag von Menschen, die säkular eingestellt sind oder den Islam kritisieren. Die Freiheit des Individuums ist in dieser Kultur verdächtig, denn Rechte hat der Einzelne nicht. In den Teehäusern und Moscheen tun die Männer nichts anderes, als sich gegenseitig zu beäugen und über die angeblichen Fehler der anderen zu reden. Besonders die Fehler der Frauen. Das Misstrauen gegen die eigene Frau und die des anderen liegt wie ein Fluch über der türkisch-muslimischen Gesellschaft, es macht sie engherzig und beklemmend.
Unverheiratet – ein Fluch
Am Nachmittag möchte Nergis mit mir ein Restaurant besuchen, das älteste am Platz, dort gebe es wunderbare Süßspeisen. Allein könne sie dort nicht hingehen, es würde auffallen und missbilligt werden. Der Raum ist hoch und versprüht den Charme einer Wartehalle aus der Zeit des europäischen Art déco, den man dereinst überall in der Türkei bis in die Provinz hinein fand, der heute aber inmitten des Ungestalteten wie ein Fremdkörper wirkt. Im Glastresen schimmern die vorbereiteten Speisen, aber der Kellner braucht mehrere Aufforderungen, bis er sich endlich aufrafft, uns Frauen zu bedienen. Wir naschen in Zuckerwasser gekochten Kürbis mit kaymak , fester Sahne.
Es ist Januar, und draußen ist es kalt. Nach dem Essen schlendern wir durch die Altstadt mit ihren engen Gassen und Häusern, denen man eine rettende Hand wünscht. Drei Männer haben einen Rinderkopf von einem Wagen gehoben. Er liegt jetzt vor der Tür einer Schlachterei, Blut läuft die schmutzige Straße hinunter. Als die Männer uns sehen, rütteln sie an den Hörnern, als wolltensie den Kopf lebendig erscheinen lassen, und lachen uns hinterher. Wir sind die Attraktion in der Straße und werden aus Türen und
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