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Bitterer Nachgeschmack - Anthologie

Bitterer Nachgeschmack - Anthologie

Titel: Bitterer Nachgeschmack - Anthologie
Autoren: Claudia Senghaas , Iny Lorentz
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sie das Erwachen des Tages nicht verpassen wollte, hatte sie kaum geschlafen. Nur langsam verdrängte das sanfte Licht des Morgens die Schatten der Nacht. Um der Müdigkeit nicht nachzugeben, betrachtete sie wie so oft in letzter Zeit den Raum, der ihr Zuhause geworden war. Er war freundlich, obwohl schmucklos eingerichtet. Eine Bettstelle, ein Schemel, ein Tisch, eine Truhe für ihre wenige Wäsche und ein verschlossener Nachtstuhl, dessen Eimer täglich gewechselt wurde. Das Mobiliar war neu und mit hellgrauer Ölfarbe übermalt, was der Gottfried gefiel. An der Wand mit der Eingangstür war in der Ecke ein Ofen eingefasst, dessen Wärme sie sich mit ihrer Nachbarin im Nebenraum teilte. Im Gegensatz zu den Wänden, die reinlich weiß getüncht waren, hatte man Decke und Fußboden braunrot gestrichen. Als Gesche Gottfried vor drei Jahren den Raum betreten hatte, erklärte man ihr, dass sie die erste Bewohnerin sei. Bewohnerin, lachte Gesche innerlich auf. Welch nettes Wort. Ihr Blick fiel auf den kleinen Tisch neben dem Fenster. Sie stand schwerfällig auf und ging zu ihm hinüber. Vom Bett bis dorthin waren es nur wenige Schritte, doch diese kosteten sie alle Kraft. Gesche musste sich mit einer Hand an der Tischkante abstützen, da ihr schwarz vor Augen wurde. Nachdem sie mehrmals ein- und ausgeatmet hatte, schob sie vorsichtig mit der Hand die Keramikschale sowie ihre Trinkkumme neben der irdenen Schale zur Seite. Hinter der weißen Fayence-Waschschale lagen zwei Bände des Buches ›Stunden der Andacht‹ und noch ein weiteres religiöses Buch. Alle drei ihr persönlicher Schatz, denn nur diese Bücher waren ihr es wert gewesen, aus ihrer privaten Sammlung ausgewählt und mitgenommen zu werden. Fast liebevoll strich sie über den Einband des oberen Buches. Dann wandte sie sich ab und ging zwei Schritte nach rechts zu dem Fenster, das hoch über dem Boden in die Wand gebrochen worden war.
    Gesche stellte sich mühsam auf die Zehenspitzen, um durch das Glas hinausschauen zu können. Jeden Tag bot sich ihr dasselbe Bild: Gegenüber dem Vorhof war ein längliches Gebäude, in dessen Fenster sie zwar blicken, aber nichts erkennen konnte. Weiter hinten ließen sich die Umrisse vereinzelter Dächer der Stadt ausmachen, in der Gesche Margarethe Gottfried als Gesche Margarethe Timm am 6. März 1785 geboren worden war. Hier und da brach sich das aufkommende Sonnenlicht in den Fensterscheiben der Gauben, sodass die Dächer golden glänzten. »Bremen!«, murmelte Gesche und presste die Stirn gegen den metallenen Stab, der das Fenster teilte. Morgen würde es so weit sein, dachte sie ohne Bitterkeit. Wie sehr hatte sie sich in letzter Zeit diesen Tag herbeigesehnt. Drei Jahre hatte sie durchgehalten, doch jetzt war ihre Kraft aufgebraucht. Morgen hatte das Warten ein Ende. »Endlich«, flüsterte sie kaum hörbar und seufzte erleichtert.
    Als Sonnenstrahlen sie blendeten, schloss die Frau für einige Herzschläge die Augen und reckte ihr Kinn in die Höhe. Frühlingswärme, die man mehr erahnen, als dass man sie spüren konnte, schien ihren Körper zu umhüllen.
    Wie würde es sein? Was werde ich fühlen? Was werde ich spüren?, fragte sie sich und öffnete die Augen. Gesche stellte sich wieder auf ihre Fußsohlen und ging zurück zu dem Schemel, auf dem sie sich schnaufend niedersetzte. Der Raum war nun lichtdurchflutet, sodass sie blinzeln musste. Als in der Ferne eine Turmuhr schlug, zählte sie leise mit, bis der letzte Schlag verklungen war. Er wird bald kommen, freute sie sich und richtete ihre helle Kopfbedeckung. Hastig schob sie einzelne dunkle Haarsträhnen, die unter der Haube hervorlugten, zurück unter den Stoff, dessen Kante leicht gewellt war.
    Gesche faltete nervös ihre Hände im Schoß, als sich der Schlüssel im Schloss umdrehte und ein kratzendes Geräusch verursachte. Erwartungsvoll blickte die Frau zur Tür, die sich langsam öffnete.
    Ein Mann betrat den Raum. Groß, schlank, streng gekleidet und einige Jahre älter als die Gottfried. Im Hereinkommen nahm er den dunklen Zylinder vom Kopf und sah freundlich zu der Frau, die ihm erwartungsvoll entgegenblickte. Als er ihr wohlwollend zunickte, überzog ein zaghaftes Lächeln ihr Gesicht und ließ ihre sorgenvollen Gesichtszüge weich erscheinen.
    Obwohl Gesche sich über sein Kommen von Herzen freute, schössen ihr Tränen in die Augen, die sie nur mit Mühe zurückdrängen konnte. Rasch schaute sie zu Boden und wischte sich mit dem Ärmel ihres Kittels
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