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Bittere Delikatessen

Bittere Delikatessen

Titel: Bittere Delikatessen
Autoren: Horst Eckert
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aufgehört, doch der Regen prasselte unvermindert. Die Scheibenwischer wurden mit den Wassermassen nicht fertig, die Kanalisation auch nicht. Ganze Straßen versanken unter tiefen Pfützen. Ohne Rücksicht auf die wenigen Passanten ließ Ben das Wasser aufspritzen, als er durch die Stadt pflügte.
    Ein Feuerwehrwagen raste Ben entgegen. Für einen Moment verwehrte ihm das aufgepeitschte Wasser die Sicht.
    Als er die Chlodwigstraße erreichte, fuhr er langsam, um die Hausnummern zu erkennen. Hinter ihm hupte es. Ben sah eine Einfahrt, fuhr zur Seite und rannte zur Haustür. Nasser konnte er jetzt nicht mehr werden.
    Fünf Klingeln. Wolfgang Machnick stand auf der untersten. Ben machte kehrt.
    Zehn Minuten später hielt er zum zweiten Mal. Im Haus Feldstraße Nummer sechs gab es eine Zahnarztpraxis, ein Anwaltsbüro und darüber eine Wohnung: Machnitzke.
    Ben ließ es zweimal lange klingeln, dann summte der Türöffner. Zwei Stufen auf einmal, ein kurzer Sprint nach oben. In der Wohnungstür stand ein junger Mann.
    »Sind Sie Willi Machnitzke?«
    »Ja.«
    »Gibt es noch einen Willi in Ihrer Familie?«
    »Mein Opa hieß auch Willi, aber der ist seit über dreißig Jahren tot. Wen suchen Sie denn?«
    Ben hastete nach unten, durch den Wolkenbruch zum Auto. Verdammt – seine Schuhe waren nicht wasserdicht.
    Die Kölner Straße war nur wenige Minuten entfernt.
    Die letzte Chance.
     
     
    73.
     
    Die Welt war durchweicht und dampfte noch weiter, als der Regen so plötzlich aufhörte, wie er begonnen hatte. Die Wolken brachen auf, und die tief stehende Sonne tauchte die Fahrbahn in gleißendes, rötliches Gold.
    Im Radio ging es immer noch ums Wetter. Der Reporter war in seinem Element. Das Sommergewitter als Katastrophe: Zwölf Verkehrsunfälle hatte die Polizei innerhalb einer Stunde registriert, mehr als einhundert Keller musste die Feuerwehr leer pumpen.
    Die Sonne blendete Ben, fast wäre er an der Nummer 72 vorbeigefahren.
    Es war ein hässliches altes Mietshaus zwischen noch hässlicheren neuen. Ben atmete durch. Die Luft war frisch und etwas kühler geworden. Neben der obersten Klingel hing ein vergilbtes Plastikschild: W. Machnitzky.
    Ben klingelte, doch niemand antwortete.
    »Willi Macht-nix«, murmelte Ben. »Mach schon auf!«
    Er drückte noch einmal. Keine Antwort.
    Ben versuchte die Klingel einer Arztpraxis, und es summte sofort. Er drückte die Tür auf und rannte die Treppen hoch.
    Es war die Dachwohnung. Die Tür hatte ein einfaches Sicherheitsschloss, wie es die meisten Wohnungen trotz der Empfehlungen seiner Kollegen noch besaßen. Ben war wieder einmal froh darüber. Es dauerte keine halbe Minute, es zu öffnen.
    Heiße, stickige Luft schlug ihm entgegen. Sofort stand Ben der Schweiß auf der Stirn. Er hatte kein gutes Gefühl.
    Ein leises, monoton wiederkehrendes Geräusch kam aus einem Zimmer, dessen Tür nur angelehnt war. Ben hatte das Holster seiner P6 geöffnet und schlich zur Tür, die Hand auf der Waffe, bereit zu ziehen. Er gab der Tür einen leichten Stoß. Langsam glitt sie auf.
    Ben betrat das Wohnzimmer und sah in die Augen von Willi Machnitzky, die ihn unter halb gesenkten Lidern anstarrten.
    Er erschrak.
    Die Sonnenstrahlen fielen durch das Dachfenster und ließen das Wohnzimmer glühen. Willi Machnitzky saß unter der Schräge auf dem Teppichboden. Die Haare, die Machnitzky sonst quer über seine Glatze gekämmt hatte, waren in die Stirn gerutscht. Die Augen waren blutunterlaufen.
    Ein Elektrokabel war tief in den Hals eingeschnitten und hielt den Oberkörper an den Rippen des Heizkörpers fest. Zum ersten Mal sah Ben jemanden, der sich an etwas aufgehängt hatte, was niedriger war als er selbst. Ben wusste, dass diese Art des Strangulierens schmerzhaft war. Es konnte Minuten dauern, bis die Blutzufuhr gestoppt war und der Tod eintrat. Und Machnitzky hatte die Zeit gehabt, unter Qualen über seine Sünden nachzudenken.
    Das Gesicht des Mannes war aufgedunsen. Hals, Wangen und Augenlider waren rot gepunktet. Die Finger, die sich auf dem Boden abstützten, schimmerten grauviolett. Die ersten Totenflecken. Dem Mann war nicht mehr zu helfen.
    In der Nähe der Leiche drehte sich ein Plattenteller. Die gute, alte Diamantnadel war am Ende der Rille angekommen und knirschte das immer gleiche Geräusch. Ben las den Aufdruck auf dem Cover: Das Requiem von Mozart.
    »Macht nix, Willi«, sagte Ben leise.
    Dann sah er den Abschiedsbrief.
     
    Liebe Kinder!
     
    Es ist aus. Meine alten Freunde Heinz
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