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Bis zur letzten Luge

Bis zur letzten Luge

Titel: Bis zur letzten Luge
Autoren: Richards Emilie
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Bindungen und Verantwortung. Behutsam und ganz unauffällig hatte sie das Gespräch auf diese Themen gelenkt und sich seine Antworten aufmerksam angehört. Und dann war sie gegangen.
    Weil keine seiner Antworten richtig gewesen war. Debby verschwand mit Vicki, und der Gesang wurde wieder lauter. Gleich würden die Indianer weiterziehen. Aber sie würden in jedem ein Gefühl von Ehre und leidenschaftlichem, überwältigendem Stolz hinterlassen. Phillip spürte wieder den Kloß im Hals und konnte kaum atmen.
    Seit er Nickys Haus verlassen hatte, war er nur ein Zuschauer, ein Beobachter, gewesen. Er hatte sich mit der bunten Menge auf der Straße nicht identifizieren können, hatte sich für etwas Besseres gehalten. Doch nun erkannte er den Sinn hinter den Feierlichkeiten. Nichts hatte diese Leute, das Volk, zu dem auch er gehörte, aufhalten können. Nicht die Sklaverei, nicht die Rassentrennungsgesetze, nicht die Vorurteile, die diese Stadt vermutlich noch in den kommenden Jahrzehnten beherrschen würden. Die Sklaven hatten allem zum Trotz auf dem Congo Square getanzt, hatten ihren eigenen Dialekt, ihre eigene Religion, ihre eigenen Traditionen entwickelt. Und ihre Nachkommen hatten sich von dem Mardi Gras abgewandt, den die Welt kannte, und hatten sich ihre eigene Feier geschaffen. Ihr Mardi Gras war ein Fest des Lebens, ein Fest voller Spaß und Ironie, voller Geist und Mut.
    Er dachte an Aurore Gerritsen, die ihre Tochter wegen ihrer eigenen Vorurteile und Ängste verloren hatte. Er dachte an Rafe Cantrelle, an den Mann, dem er angeblich so ähnlich war. Rafe hatte seine Tochter beinahe verloren, weil er sich zu sehr davor gefürchtet hatte, sie zu lieben.
    Phillip hatte nicht auf den Knien seiner Großeltern gesessen, als er ein Kind gewesen war. In seiner Kindheit hatten sie ihm nicht als Helden oder Vorbilder gedient. Er hatte sie nicht einmal gekannt. Und dennoch hatten sie ihm ein gewissesMaß an Unsicherheit vererbt. Genau wie sie hatte er Angst vor der Liebe. Er hatte Angst davor, an Belindas Seite zu stehen und mit ihr ein gemeinsames Leben aufzubauen – trotz des Chaos, in dem die Welt sich befand. Er hatte nie einen Ort gefunden, an dem ein schwarzer Mann wirklich frei sein konnte, und deshalb hatte er sich nirgends niedergelassen. Im Grunde hatte er nur am Rande existiert: Er war gereist, hatte sich Notizen gemacht, seinen Bericht abgegeben und war danach weitergereist. Genau wie seine Großeltern hatte er die größten Risiken gemieden und sich damit auch die größten Gewinne versagt.
    Genau wie seine Großeltern war er feige gewesen.
    Doch in Aurores Geschichte ging es um weitaus mehr als um Angst, Feigheit, Rache und Verrat. Am Ende ihres Lebens strengte sie sich an, ihre Welt wieder geradezurücken, so schmerzhaft das für sie auch sein musste. Und Rafe war gestorben, während er gekämpft hatte – für seine Tochter, für Nickys Zukunft und letztendlich für ihr Leben.
    Seine Großeltern hatten ein Gefühl der Unsicherheit an ihn weitergegeben, doch außerdem hatten sie ihm noch etwas anderes hinterlassen. Zum ersten Mal erkannte Phillip, was ihre Geschichte bedeutete und warum es so schmerzhaft – und zugleich so tröstlich und ermutigend – gewesen war, Aurores Enthüllungen zu lauschen.
    Aurore und Rafe waren – durch ihre Liebe zueinander verdammt – verloren gewesen.
    Aber sie hatten ihrem Enkelsohn eine zweite Chance geschenkt.

32. KAPITEL
    E s war kein Problem gewesen, Männer zu finden, die den Abfall und Schutt aus dem verlassenen Haus in Belindas alter Nachbarschaft abtransportierten. Termiten hatten die obere Veranda befallen, und mehr als die Hälfte aller Fensterscheiben war von Unbekannten eingeworfen worden. Die eisernen Ornamente an den Geländern, die Belinda so fasziniert hatten, waren verrostet, aber zumindest nicht zerstört. Phillip säuberte sie selbst. Vorsichtig entfernte er mit feiner Stahlwolle den Rost, um sie für mehrere Schichten schwarzen Lacks vorzubereiten.
    Nachdem er das Haus so weit hergerichtet hatte, kamen die Handwerker. Die Maler schliffen die Zierleisten am Giebel ab und trugen eine Grundierung auf. Die Tischler schlugen riesige Löcher in den Boden der Veranda, bevor sie diese mit neuen Dielenbrettern wieder verschlossen. Es dauerte fast eine ganze Woche, die Fenster zu ersetzen: Die Rahmen, die Fensterbänke und die alten Fensterläden mit den Lamellen mussten ebenfalls vorsichtig instand gesetzt werden.
    Dem Innern des Hauses war es über die Jahre
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