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Bis Sansibar Und Weiter

Titel: Bis Sansibar Und Weiter
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bedrohlich unter meinen Füßen.
    »Du musst den Doktor rufen«, sagte der Kapitän, als ich über die Reling schaute. Sein mit einem spärlichen grauen Bart gerahmtes Gesicht war blass, die Augen lagen tief in ihren Höhlen.
    »Sind Sie krank?«, fragte ich.
    »Was glaubst du wohl?!«, schnauzte er. Jungejunge, der Typ war vielleicht unfreundlich.
    »Wo ist Ihr Telefon?«
    Er stöhnte. »Kein Telefon, kein Handy, kein Internet –ich mag das Zeug nicht. Hält die Leute nur vom Lesen ab.«
    »Dann ruf ich von zu Hause aus an«, sagte ich. »Welcher Doktor soll denn kommen?«
    »Irgendeiner«, antwortete der Kapitän und stöhnte erneut. »Los, mach schon!«
    »Und wie ist Ihre Adresse?«
    »Gartenweg 15. Kannst du das behalten?«
    Hatte er »bitte« gesagt? Hatte der Klotz ein einziges Mal »bitte« gesagt? Trotzdem rannte ich, so schnell ich konnte, nach Hause. Dem Kapitän schien es wirklich schlecht zu gehen. Mein Opa hatte genauso ausgesehen, als wir ihn kurz vor seinem Tod im Krankenhaus besucht hatten.
    Beim ärztlichen Notdienst wollten sie zuerst nicht mit mir reden. Ich stünde in keinem verwandtschaftlichen Verhältnis zum Kapitän, sagte die Frau am Telefon. Außerdem wüsste ich nicht mal seinen richtigen Namen und hätte keine Ahnung, was ihm eigentlich fehle. Doch ich blieb hartnäckig und schließlich versprach sie, einen Arzt zum Gartenweg 15 zu schicken.
    »Machst du dem Doktor auf?«, fragte die Frau.
    »Ist nicht nötig. Der Kapitän liegt auf seinem Schiff«, antwortete ich.
    Für einen Moment war es am anderen Ende der Leitung still.
    »Im Gartenweg... auf seinem Schiff... Du willst mich wohl auf den Arm nehmen?!«, tönte es dann aus dem Hörer.
    »Überhaupt nicht«, sagte ich. »Der Doktor wird schon sehen. Bitte, dem Kapitän geht’s schlecht!«
    Ich legte auf und ging hinüber in die Küche, wo meine Mutter das Mittagessen zubereitete. Mama sah gut aus. Sie hatte offenbar nicht nur eingekauft, sondern war auch beim Friseur gewesen. Der hatte ihr eine Stachelfrisur verpasst.
    »Wo ist Oma?«, wollte ich wissen.
    »Heute Morgen abgereist. Ich soll dich grüßen.«
    Das passte zu meiner Großmutter. Sie kam und ging, wie es ihr gefiel. Trotzdem war sie immer da, wenn wir sie brauchten. Sie schien den sechsten Sinn dafür zu haben.
    »Du hattest einen Anruf«, sagte meine Mutter, als wir aßen. Ganz gegen ihre Gewohnheit unterbrach sie das sonst übliche Schweigen.
    »Wer war es?«
    »Ein Mädchen.«
    »Hat sie ihren Namen gesagt?«
    Meine Mutter dachte nach. »Ja«, sagte sie.
    »Und wie heißt sie?«, fragte ich geduldig. Ich sah, wie es in Mamas Kopf arbeitete. Es hatte keinen Zweck, sie unter Druck zu setzen. Dann fiel ihr gar nichts mehr ein. »Lilli«, antwortete sie schließlich. »Nein, doch nicht. Oder Lisa?«
    »Linda?«, fragte ich.
    Ein Lächeln zog über ihr Gesicht. »Linda hieß sie!«, rief sie. »Schöner Name.«
    »Jaja. Und was wollte sie?«
    »Du sollst sie zurückrufen, Marius. Ich habe die Nummer aufgeschrieben.«
    Nachdem wir abgeräumt und gespült hatten, holte ich das Telefon und nahm es mit in mein Zimmer. Nach dem dritten Klingeln meldete sich eine Männerstimme: »Lebert.«
    »Hier ist Marius Dick«, sagte ich. »Ist Linda da?«
    »Wer bist du denn?« Besonders freundlich klang Lindas Vater nicht. Sie hatte offenbar eine Menge bei ihm gelernt.
    »Ich bin in Lindas Klasse«, antwortete ich.
    Ich hörte ihn rufen und im nächsten Moment kam sie ans Telefon. »Hast du Zeit?«, fragte sie.
    Seit ihrem Auftritt beim Spagettiessen war ich vorsichtig geworden. Wenn sie wieder jemanden zum Anschreien brauchte, sollte sie sich einen anderen suchen. »Zeit? Wofür?«, fragte ich zurück.
    »Ich muss mit dir reden«, antwortete sie.
    »Worüber?«
    Einen Augenblick war es stumm in der Leitung. »Über alles«, sagte sie schließlich. Eine unpräzisere Antwort hätte sie mir wirklich nicht geben können. Aber ich habe ein gutes Herz, ein zu gutes, sagt Oma. »Wo sollen wir uns treffen?«, fragte ich.
    »Bei dir?«, fragte sie zurück. »In einer Stunde?«
    Kaum hatte ich aufgelegt, passierte etwas mit mir, was ich in diesem Ausmaß noch nie erlebt hatte. Ich kannte es aus Kitschfilmen und aus der Werbung, hätte aber niemals geglaubt, dass es mir genauso ergehen könnte.
    Ich begann, wie ein Verrückter mein Zimmer aufzuräumen. Warf die Anziehsachen ungefaltet in den Schrank, machte mein Bett, befreite meinen Schreibtisch von Krümeln und Klebe, stellte die Bücher vom Boden
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