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Bis ins Koma

Titel: Bis ins Koma
Autoren: Brigitte Blobel
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Reibeisen.
    »Ja.«
    Sie legt die Liste weg und streckt ihm aus den Wallekleidern ihren dicken Arm entgegen. Sie fixiert ihn kurz. An ihrer Miene kann Marvel nicht erkennen, was sie vorhat. »Ich bin Biggi, die Regisseurin.« Sie lacht. »Also, an mir kommst du nicht vorbei.«
    Marvin denkt, dass sie diesen Satz an diesem Tag wohl schon dreißig Mal gesagt hat, zu allen, die sich zum Casting gemeldet haben. Er managt ein Grinsen.
    Die Regisseurin deutet auf die Küchenkulisse. »Also, das ist jetzt nur ein Provisorium. Fürs Casting. Du sitzt auf dem Stuhl. Siehst du da die roten Markierungen? Das sind deine. Deine Filmpartnerin Jule hat die blauen Markierungen. Du darfst die Markierungen nicht verlassen. Du sitzt da, du spielst, sagst deinen Text - und dann geb ich ein Zeichen und eine Tür schlägt zu, obwohl hier keine Tür ist, also sei nicht verwirrt.«
    »Nee, bin ich schon nicht«, lügt er, doch sein Puls ist mittlerweile auf hundertachtzig.
    »Gut. Jule kommt also rein. Du bist schlecht drauf, es gab - das ist die Szene davor - ziemlichen Zoff. Jule ist sauer auf dich, weil du ihre Mutter wie Luft behandelst. Wie deine Putzfrau.
Dir geht das am Arsch vorbei. Du findest die ganze Familiensituation scheiße. So weit alles verstanden?«
    Marvel nickt. Ihm schwirrt der Kopf. Er versucht, den Sinn der Markierungen auf dem Fußboden zu verstehen.
    »Hab ich ein Ja gehört?«, fragt die Regisseurin.
    Marvel kennt diese dämliche Frage noch von seiner Grundschullehrerin. Das ärgert ihn. Er räuspert sich.
    Biggi runzelt die Stirn. »Etwa erkältet?«
    Marvel schüttelt den Kopf. »Geht schon«, sagt er. »Alles easy.«
    »Okay, gut, fangen wir an.«
    »Wär schön, wenn du die Dinge ein bisschen mitspielen ließest«, sagt sie und deutet dabei auf den Tisch. Da steht eine Milchflasche, ein benutzter Teller mit Leberwurstschmiere und abgekauten Brotkanten, benutztes Besteck.
    Soll ich das gewesen sein?, denkt Marvin, ist das hier meine Küche? Er überlegt, dass er, wenn ein Käfer über den Tisch liefe, den Käfer mit der Gabel erstechen könnte. Das wär doch mal cool. Plötzlich, wie aus dem Nichts, taucht Wanda in ihren Ringelstrümpfen auf und begrüßt ihn, als könne sie ihr Glück gar nicht fassen, ihn hier zu sehen.
    »Ey, cool«, sagt sie und tut so, als spucke sie ihm dreimal über die rechte Schulter. »Toi, toi, toi.«
    Marvel grinst. Wanda behandelt ihn wie einen Profi.
    Über Lautsprecher dröhnt auf einmal die Stimme der Regisseurin, so als käme sie irgendwie aus dem kosmischen Raum. »Marvin?«
    »Ja?«
    »Setz dich bitte schräg an den Tisch, dass ich seh, was du mit deinen Beinen machst, aber geh nicht über die Markierungen. Zuerst hörst du das Kommando › M A Z läuft!<, und nachdem ich dann ›Bitte!< gesagt habe, fängst du an. Okay?«

    Marvin nickt und probiert eine neue Sitzposition. Er kommt sich ziemlich albern vor.
    Wanda baut sich vor der Kamera auf und hält einen Zettel hoch, auf dem groß MARVIN KELLER FÜR MAX steht und darunter CASTING.
    Und darunter: COOLE ZEITEN.
    Marvel sieht, wie Wanda auf Zehenspitzen hinter die Kamera trippelt, ins Dunkle. Und dann: »MAZ läuft!«, und er hört Biggi »Bitte!« sagen.
    Und dann ist es ganz still.
    Marvel sitzt an seinem Platz, starrt auf das Besteck und weiß nicht mehr, wie der erste Satz ging.
    Er überlegt. Sein Kopf wird erst heiß, dann hat er das Gefühl, als liege sein Gehirn in einem Gefrierfach. Er schaut hilflos hoch, hebt die Schultern und sagt: »Ich hab einen Blackout.«
    Vor Scham möchte er im Boden versinken.
    »Aus!«, sagt Biggi aus dem Orbit. »Aus!«
    Marvel erhebt sich. Das war’s also, denkt er. Sein Kopf ist wie Watte. So schnell ging das also. Eben noch im Rampenlicht, nun schon wieder zappenduster.
    Da tritt die Regisseurin ins Licht. »Wir wollten doch mit einer Totalen anfangen! Das war mir zu eng, Günni.«
    »Okay.« Das war wohl Günni.
    Marvel sieht sich ratlos um.
    »Du warst gar nicht gemeint, Marvin, du kannst dich wieder hinsetzen. Du hast ja auch noch gar keinen Text.« Biggi legt ihm beruhigend die Hand auf den Arm. »Du wartest ja, bis Jule reinkommt und den ersten Satz spricht. Sie sagt: ›Du Scheißkerl. Ich hasse dich.‹ Stand alles im Text. Erinnerst du dich?«
    Er nickt. Er hat einen knallroten Kopf.
    »Du lümmelst da irgendwie auf dem Stuhl, nicht vergessen,
so, dass ich deine Beine sehe und dass die Kamera immer dein Gesicht hat. Also, es gab Zoff in der Familie, und du weißt, die Sache
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