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Bis in alle Ewigkeit

Bis in alle Ewigkeit

Titel: Bis in alle Ewigkeit
Autoren: P Daschkowa
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dunkel. Sie wirkt verwirrt und schrecklich schutzlos.
    Das kleine gelbgraue Rechteck hatte gezackte Ränder. Auf der Rückseite waren mit Bleistift kaum erkennbar vier Ziffern notiert: 1 9 3 9. Sofja begriff nicht gleich, dass das eine Jahreszahl war.
    Das nächste Foto – dasselbe Paar, diesmal draußen. Schwer zu sagen, wo genau. Man sah nur die kahlen Äste von Bäumen. Der junge Mann und das junge Mädchen stehen nebeneinander. Sie in Hut und Mantel. Er in einem Militärmantel, eine Schirmmütze tief in die Stirn gezogen. Er hält ein längliches Bündel im Arm. Sofja sah genauer hin und erkannte, dass es ein in eine Decke gewickelter Säugling war. Auf der Rückseite des Fotos stand keine Jahreszahl.
    Auf den anderen, noch älteren Fotos, waren Offiziere und junge Frauen, ein halbwüchsiger Gymnasiast in Uniformmantel und mit Schirmmütze und ein düsterer junger Mann im Russenhemd. Ein Gruppenfoto auf dem Hof eines Lazaretts. Viele Menschen. Verwundete und Soldaten, Krankenschwestern, Ärzte. Die Gesichter waren zu klein, nicht zu erkennen. Ein noch nicht alter, aber grauhaariger Herr im weißen Kittel auf demselben Lazaretthof, allein, auf einer Bank sitzend und rauchend. Eine junge Frau, die sie schon auf anderen Fotos gesehen hatte, diesmal in Schwesterntracht. Dann sie zusammen mit dem grauhaarigen Herrn. Noch einmal sie, in einer Bluse mit Stehkragen und einer Brosche am Hals, mit einem Offizier mittleren Alters. Noch einmal der Grauhaarige, allein, an einem Schreibtisch.
    Sofja kniff die Augen zusammen, schüttelte den Kopf und schaute noch einmal auf das letzte Foto. Sie stand auf, schaltete die Deckenlampe ein, die Schreibtischlampe und die Wandlampe. Sie rannte in ihr Zimmer und kam mit einem dicken Buch zurück, das sie kaum halten konnte – Geschichte der russischen Medizin. Enzyklopädie . Nach kurzem Blättern fand sie, was sie suchte. Das Foto des Grauhaarigen, nur größer und deutlicher – im Anhang, unter den Fotos berühmter Ärzte.
    Ein Ausschnitt, nur das Gesicht. Der grauhaarige Herr. Michail Wladimirowitsch Sweschnikow. Professor an der medizinischenFakultät der Moskauer Universität, Mitglied der Physikalisch-medizinischen Gesellschaft. General der kaiserlichen Armee. Militärchirurg. Autor herausragender Arbeiten zur Medizin und zur Biologie, leistete einen bedeutenden Beitrag zur Erforschung von Blutbildung und Geweberegeneration. Geboren 1863 in Moskau. Wann und wo gestorben, war nicht bekannt.
Moskau 2006
    Der quecksilberfarbene Sportwagen, flach wie eine fliegende Untertasse, raste in einem für Moskau unmöglichen Tempo den Lenin-Prospekt entlang. Es war Abend, ein Schneesturm tobte. Aus dem Auto drang eine moderne Mozart-Adaption. Am Steuer saß ein glatzköpfiger älterer Herr. Auf der Rückbank schlief zusammengerollt ein junges Mädchen. Sie war höchstens zwanzig. Selbst im Schlaf kaute sie weiter Kaugummi.
    Seltsamerweise waren sämtliche Verkehrspatrouillen vom Prospekt verschwunden. Alle anderen Autos machten den Weg frei, obwohl Moskauer Autofahrer selbst Feuerwehr und Notarztwagen selten vorbeilassen. Der Wagen jagte dahin, die nagelneuen Reifen berührten kaum die Straße, der Tacho zeigte 120 Stundenkilometer. Am Gagarin-Platz hatte sich ein Stau gebildet, und wer weiß, wie der magische Flug des Sportwagens geendet hätte – doch er bog in eine ruhige Nebenstraße ein und drosselte das Tempo.
    »Maschka, wach auf, wir sind da!«, sagte der Mann und stellte die Musik lauter.
    »Ich bin Jeanna«, murmelte das Mädchen, ohne die Augen zu öffnen.
    »Entschuldige, mein Sonnenschein.«
    »Hmhm.« Das Mädchen setzte sich auf, klimperte mit denangeklebten Wimpern und holte eine Puderdose aus der Handtasche.
    Das französische Restaurant »Je t’aime« war vor fünf Jahren in einen großen Hof gesetzt worden, anstelle zweier abgerissener Plattenbauten. Die zweistöckige Villa im Stil des europäischen Jugendstils beherbergte zwei Speisesäle, einen Bankettsaal mit einer Bühne für ein Orchester, drei Séparées und eine Bar mit riesigen Samtsofas. Der Chefkoch war Franzose. Der Portier und einige Kellner waren Schwarze. Von der Straße führte ein Wandelgang mit Girlanden bunter Lämpchen und einem Teppichläufer zum Eingang.
    Der Wagen hielt, und sofort stürzten Kameraleute und Journalisten mit Mikrofonen herbei.
    »Na so was, Mozart! Früher hat er im Auto Kriminellensongs gehört«, flüsterte die Korrespondentin eines schmalen Hochglanzmagazins, eine große
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