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Bis einer stirbt

Bis einer stirbt

Titel: Bis einer stirbt
Autoren: Olaf Buettner
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Um an diese Jugendlichen heranzukommen, wurden Lockvögel ausgesandt, Nina war einer von ihnen. Die wiederum hat Lohmeier durch falsche Versprechungen und mithilfe von Drogen gefügig gemacht. Im Grunde ist Nina ziemlich arm dran.«
    Wahrscheinlich erwarteten sie mehrere Jahre Jugendstrafe. Sie war nicht nur beim letzten Tankstellenüberfall dabei gewesen. Nach allem, was wir mit ihr erlebt hatten, fiel es mir schwer, Mitleid für sie zu empfinden.
    Â»In der entsprechenden Szene«, erklärte Marlena weiter, »wurden dann von diesen Lockvögeln gezielt Leute angesprochen, die sich mehr oder weniger selbst überlassen waren. Straßenkids oder Jugendliche, die zu Hause Probleme hatten, was ja auch bei Pit der Fall war.«
    Mir wurde heiß und kalt, denn irgendwie fühlte ich mich für diese »Probleme« mit verantwortlich. Aber immerhin arbeiteten wir jetzt dran. Gerade waren wir auf dem Weg zum städtischen Beratungszentrum, wo Marlena uns einen Termin für die ganze Familie vermittelt hatte.
    Â»Es ist wichtig«, hatte sie gesagt, »dass ihr alle mitmacht. Schließlich ist jeder ein Teil des Ganzen. Und jeder spielt darin seine Rolle.«
    Der Einzige, der diesmal nicht dabei sein konnte, war Pit, der noch im Krankenhaus lag. Er war nach den Vorfällen total geschwächt und befand sich noch immer in einem schockähnlichen Zustand. Außerdem hatte sich seine Verletzung am Knie schwer entzündet. Es war fast Ironie, dass meine Messerwunde besser verheilte als seine Nagelverletzung.
    Bei unserem ersten Beratungsgespräch würde Marlena als vierte Person dabei sein. Der Vorschlag war von den Beratern gekommen und ich fand ihn gut. Meine Eltern auch. Wobei mich wunderte, dass mein Vater überhaupt mitging. Obwohl Marlena ihm ganz deutlich gesagt hatte, dass auf ihn vielleicht noch eine Einzeltherapie zukam, wenn er seine Trinkerei nicht alleine in den Griff kriegte. Anscheinend hatte aber auch er inzwischen kapiert, dass es so nicht weiterging. Was mit mir und vor allem mit Pit passiert war, schien für ihn letztlich ein heilsamer Schock.
    Marlena hatte mich, gleich nachdem meine Verletzung im Krankenhaus notversorgt worden war, nach Hause gefahren, um die »Lage zu entschärfen«, wie sie wörtlich gesagt hatte. Und um meine Eltern ganz offiziell über Pits Straftaten in Kenntnis zu setzen. Die Rolle von Pit innerhalb der Bande war damals noch nicht ganz klar gewesen. Inzwischen aber stand fest, dass er tatsächlich ausschließlich an kleineren Diebstählen beteiligt gewesen war.
    Na, und schließlich hat sie die Situation mit meinem Vater gemeistert. Irgendwie hat sie es sogar hingekriegt, dass er nur einen ganz kurzen Tobsuchtsanfall bekam und am Ende sogar Reue zeigte. Meine arme Mutter weinte ohne Ende.
    Â»Sie hat noch sehr, sehr viele Tränen in sich«, hatte Marlena später zu mir gesagt. »Aber dass sie sie jetzt fließen lässt, ist ein guter Anfang.«
    Â»Jetzt klingst du wie eine Psychotante«, hatte Nils gegrinst.
    Â»Ich gebe es zu.« Marlena hatte die Hände gehoben. »Von so einer hab ich es auch.« Dann hatte sie gelacht.
    Wir waren beim Beratungszentrum angekommen. Meine Eltern warteten schon in der Eingangshalle. Das Gesicht meines Vaters war aschgrau. Aber auch an diesem Tag war er wenigstens nüchtern geblieben.
    Unter der Bedingung, dass er trocken blieb, hatte er von Onkel Herbert sogar einen Job in dessen Tankstelle bekommen, was seinem Selbstwertgefühl deutlich Auftrieb gegeben hatte. Toll fand ich, dass er nicht zu stolz war, diesen Job anzunehmen. Es schien, dass er wirklich etwas gecheckt hatte. Wie lange das so blieb, musste man sehen. Aber ich konnte hoffen. Schließlich hatte er auch eingewilligt, dass ich weiter zur Schule ging. Aber das hätte ich sowieso gemacht, egal wie. Mein Traum von einem anderen Leben war durch das, was ich erlebt hatte, eher noch stärker geworden.
    Natürlich würde auch Pit sich, wenn er wieder gesund war, dem Jugendrichter stellen müssen. Der Sozialarbeiter vom Jugendamt glaubte aber, dass er ganz gute Chancen auf eine milde Strafe hatte, weil er wirkliche Reue zeigte und außerdem bei keinem der ganz üblen Verbrechen dabei gewesen war. Er hatte sich in letzter Zeit wieder ein paarmal mit Benjamin getroffen, was ich ziemlich gut fand. Es schien bergauf zu gehen.
    Die Augen meiner Mutter sahen nicht mehr verweint aus wie zuletzt so
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