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Bin Ich Schon Erleuchtet

Bin Ich Schon Erleuchtet

Titel: Bin Ich Schon Erleuchtet
Autoren: Suzanne Morrison
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geplant. Schon vor den Angriffen auf Manhattan hatte mich der Gedanke an New York nervös gemacht; nach ihnen erschien mir das, was eigentlich ein schwieriger, aber notwendiger Übergangsritus sein sollte, eher wie ein Flirt mit dem Tod.
    Wohin ich auch blickte, überall war Tod. Mein Umzug nach New York war der Tod meines Lebens in Seattle im Kreis meiner Familie und meiner Freunde. In Anbetracht der prekären Sicherheitslage in unserem Land bedeutete ein Umzug womöglich, dass man sich nie wiedersah. Ich weiß noch, dass ich überlegte, wie lange ich wohl zu Fuß von New York nach Hause unterwegs wäre, wenn der Weltuntergang kam. Ganz schön lange. Das machte mir Kummer.
    Doch selbst wenn ich mir den Kopf nicht mit paranoiden postapokalyptischen Phantasien zumüllte, war der Tod mir auf den Fersen. In New York wollten mein Freund Jonah und ich zusammenziehen, und ich wusste, was das bedeutete: Heirat, und nach der Heirat Babys. Und nach Babys kommt nur noch eins. Der Tod.
    Andauernd kriegte ich Krebs. Gehirntumore, Magenkrebs, Knochenkrebs. Selbst das Nägelschneiden erinnerte mich an das Vergehen der Zeit und das Heranrücken des Todes. Jede Woche lagen diese kleinen Bumerangs aus verbrauchtem Leben im Waschbecken.
    Ich maß meine Lebenszeit an meinen abgeschnittenen Fußnägeln.
    »Hör auf, so zu denken«, sagte meine Schwester.
    »Kann ich nicht.«
    »Versuch’s. Du hast es nicht mal versucht.«
    Meine Schwester Jill war schon immer die Klügste und Vernünftigste von uns vier Geschwistern gewesen. Aber sie konnte mir damals nicht beibringen, wie man im Angesicht des Todes weiterlebt. Indra konnte es.
     
    Indra war eine Frau, eine Yoga-Lehrerin, eine Göttin. Indra brachte mir bei, auf dem Kopf zu stehen und mit dem Rauchen aufzuhören, und hob mich dann aus meinem jüdisch-christlichen Kontinent heraus, schickte mich per Flugzeug viele Kilometer weit über den gleichgültigen Ozean und setzte mich zeitgleich mit dem Beginn des Kriegs gegen den Terrorismus auf einer von Hindus bewohnten Insel mitten in einem muslimischen Archipel ab. Indra war meine erste Yoga-Lehrerin, und ich liebte sie. Ich liebte sie mit der Ambivalenz, die ich sonst nur bei Gott – und sämtlichen von mir abservierten Exfreunden – erlebte.
    Indra führte mich an das Konzept der Einheit heran. Darum geht es im Hatha-Yoga: Man vereint Körper und Geist, Männliches und Weibliches, und vor allem das individuelle Selbst mit dem unteilbaren Selbst, das manche Gott nennen.
    Mit siebzehn war ich stolz darauf, dass ich mich von der katholischen Kirche nicht hatte firmen lassen. Ich ging davon aus, dass alle, denen ich davon erzählte – alle vernunftbegabten Menschen dieser Welt, die nicht meine Freak-DNA hatten –, mir zustimmen würden. Ich hatte recht. Die meisten von ihnen, vor allem meine Künstlerfreunde, waren meiner Meinung. Aber meine Schauspiellehrerin sagte etwas, das ich nie vergessen habe. Sie hörte sich nach der Probe geduldig und leise lächelnd an, wie ich mit meinem fehlenden Glauben protzte. Dann sagte sie: »Es ist okay, dich von der Kirche loszusagen, wenn du jung bist. Du wirst zurückkommen, sobald jemand stirbt.«
    Und es starben Menschen. Als hätte meine Schauspiellehrerin in der Kristallkugel aus der Requisite in die Zukunft geblickt, stapelten sich kurz darauf spirituelle Erfahrungsberichte auf dem Fußboden neben meinem Bett. Ich verriet niemandem, was ich las. Und auf keinen Fall hätte ich zugegeben, dass ich diese Bücher las, weil ich Gott zu finden hoffte. Ich hätte erklärt, es handele sich im Grunde um fiktionale Werke, Erlösungsgeschichten im Stil unterschiedlicher Epochen und Länder. Ich hätte nie zugegeben, dass ich sie las, weil ich das befreite Aufatmen brauchte, wenn ein Erzähler nach dem anderen aus seinem Jammertal errettet wurde.
    Vielleicht hat mich das zu Indra geführt. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich im Herbst 2001 eines Abends in meinen ersten richtigen Yoga-Kurs spazierte. Ich hatte im Schauspielunterricht und in dem Fitnesscenter, in dem meine Schwester arbeitete, ab und zu Yoga gemacht und kannte die Körperhaltungen schon. Yoga-Übungen hatten mich nie besonders interessiert, aber jetzt pilgerte ich in dieses Studio, als hätte ich wie der heilige Augustinus den ganzen Tag weinend im Garten verbracht und nur darauf gewartet, dass eine körperlose Stimme mir vorsang: Schwing endlich deinen Hintern vom Liegestuhl und schwitz um des lieben Herrgotts willen endlich
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