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Bin ich hier der Depp

Bin ich hier der Depp

Titel: Bin ich hier der Depp
Autoren: Martin Wehrle
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Auslagerung von Arbeitsplätzen, solange sein eigener Job erhalten bleibt. Sogar vernichtenden Arbeitsdruck akzeptieren Arbeitnehmer, solange er nur andere zerbricht.
    Ausgerechnet heute, da die Arbeitswelt vor Unsicherheit zittert, da der Zusammenhalt der Arbeitnehmer wichtiger wäre als je zuvor seit der Industrialisierung – ausgerechnet heute bröckeln den Gewerkschaften die Mitglieder weg. Ausgerechnet heute winken immer mehr Mitarbeiter ab, wenn ein Betriebsrat gegründet werden soll. Ausgerechnet heute geraten Demonstrationen der Arbeitnehmer immer öfter zu Demonstrationen der Lächerlichkeit, weil kaum jemand teilnimmt, weil die meisten lieber vorm Computer sitzen (womöglich, um Dienstmails zu beantworten), als auf die Straße zu gehen.
    Es geht nicht darum, dass sich die Proletarier aller Länder vereinen sollen, nicht um Klassenkampf – es geht um eine kluge Interessenvertretung! Statt ihre Macht zu ballen, statt geschlossen aufzutreten, statt gemeinsam für bessere Arbeitsverhältnisse zu kämpfen, kommen die Mitarbeiter als Einzelkämpfer daher. Und der Kampf, den sie führen, gilt vor allem der eigenen Karriere, dem Gehalt, dem Aufstieg, den Privilegien – aber nicht den Bedingungen, unter denen sie arbeiten.
    Manchmal habe ich das Gefühl, da kämpfen Menschen um bessere Schlittschuhe für die eigenen Füße, statt erst mal zu fragen: »Wie dick ist eigentlich das Eis, auf dem wir uns alle bewegen? Und was können wir tun, um es zu stärken?« Das Eis der modernen Arbeitswelt wird dünner, und immer mehr Menschen brechen weg: in Stresskrankheit, in Arbeitslosigkeit, in prekäre Arbeitsverhältnisse.
    Die Firmen können sich die Hände reiben! Noch ist jeder, der unter der Arbeitslast wegbricht, selber schuld – denn seine Kollegen tragen alles klaglos. Noch ist jeder, der Überstunden und Wochenendarbeit verweigert, ein Fahnenflüchtling – denn seine Kollegen verrichten alles klaglos. Noch ist jeder, der seine Meinung sagt, ein Quertreiber – denn seine Kollegen schweigen klaglos.
    Die Firmen spielen Mitarbeiter gegeneinander aus! Jeder denkt, er kämpfe für seine eigenen Interessen, doch in Wahrheit dient er nur dem Profit der Firmen und trägt dazu bei, dass die Macht der Arbeitnehmer gespalten wird.
    Dabei könnten die Mitarbeiter viel tun, um Veränderungen anzustoßen. Was geschieht, wenn die Hochqualifizierten nur noch bei Firmen anheuern, denen die Gesundheit ihrer Mitarbeiter mehr bedeutet als der schnelle Profit? Was geschieht, wenn die Burn-out-Opfer nicht mehr auf dem leisen Weg in die Kliniken entsorgt werden, sondern die ganze Abteilung aufsteht und andere Arbeitsbedingungen und mehr Personal fordert? Was passiert, wenn sich Stammmitarbeiter dafür einsetzen, dass ihre Kollegen von der Zeitarbeit ebenfalls feste Verträge bekommen?
    Der Arbeiter der Industrialisierung war austauschbar. Wenn ein starker Arm nicht mehr wollte, konnte er durch einen ebenso starken Arm ersetzt werden – vor dem Fabriktor wartete Nachschub. Jeder, der Kraft hatte, war Arbeitskraft. Viel kostbarer für die Firmen sind die Wissensarbeiter der Gegenwart, die Experten und Spezialisten. Ihre Köpfe sind das wahre Geschäftsvermögen. Wenn ein Unternehmen es nicht versteht, sie zu halten, ist es dem Untergang geweiht – erst recht in Zeiten geburtenschwacher Jahrgänge, in denen wenig Qualifizierte nachrücken.
    Arbeitnehmer sind heute nicht ohnmächtiger, sondern mächtiger als je zuvor! Nur müssen sie diese Macht ballen und für ihre eigenen Interessen nutzen. Wir brauchen Mitarbeiter, die zusammenhalten und ihren Firmen deutlich machen: Arbeit muss ihre Grenzen haben, Arbeit darf nicht krank machen!
    Wir brauchen Starke, die für Schwache aufstehen, Nichtbetroffene, die für Betroffene sprechen. Wir brauchen Junge, die dagegen protestieren, wenn Alte in den Vorruhestand abgeschoben werden. Wir brauchen Alte, die es nicht zulassen, dass Praktikanten und Azubis nicht ausgebildet, sondern ausgebeutet werden. Wir brauchen Fachkräfte, die dafür eintreten, dass die weniger Qualifizierten genug Raum für ihre Weiterbildung bekommen. Wir brauchen Männer, die dagegen vorgehen, wenn Frauen im Job benachteiligt werden, und umgekehrt.
    Wir brauchen Zusammenhalt, auch durch Gewerkschaften und Betriebsräte. Wir brauchen ein Bewusstsein dafür, dass Arbeitnehmer ihre Rechte – etwa das Recht auf Feierabend, wenn sie zu Hause sind – nur dann behalten, wenn sie gemeinschaftlich dafür eintreten und sich
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