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Bilder von dir: Roman (German Edition)

Bilder von dir: Roman (German Edition)

Titel: Bilder von dir: Roman (German Edition)
Autoren: Kate Racculia
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ihrer Vorstellung. Sie kannte diesen Jungen wirklich nicht. Er konnte kaum älter als neun oder zehn sein, mit kurzem hellem Haar und einer winzigen Stupsnase, die mit einem Schlauch verbunden war, der beiderseits der Ohren verlief. Er war wach.
    »Hi«, flüsterte er.
    »Hi«, sagte Oneida. Ihre Stimme war hoch, verlegen. Sie hatte Angst vor dem Jungen, Angst um ihn.
    »Bist du Ohn Ida?«
    Oneida sah ihn verwundert an. Sie nickte.
    »Er redet im Schlaf von dir«, sagte der Junge. »Das nervt. Hör mal.« Er wandte sich dem Vorhang auf der rechten Seite seines Betts zu; Oneida konnte selbst im Dunkeln erkennen, dass er gestreift war wie ein Zirkuszelt. Was für kranke Idioten entwarfen diese Paravents für Kinderstationen?, überlegte sie und war plötzlich wütend auf die Welt. Fühlte sich im Namen des Jungen beleidigt, empfand es als Beleidigung, dass man glaubte, ein paar fröhliche Streifen, ein paar Regenbogen, ein paar Ballons könnten die Realität der jeweiligen Lage vertuschen, könnten ihn so weit zu übertölpeln glauben, dass alles bestens war. Das Leben ist kein Zirkus, sagte sie sich. Das Leben ist kurz und grausam und schön, und Kinder wissen das. Die Erwachsenen sind es, die das vergessen, und es sind die Erwachsenen, die sich selbst und anderen etwas vormachen müssen. Die Kinder sind sich dessen, was sie durchmachen, ziemlich bewusst.
    Super, sagte sie sich, und ihre Kehle schnürte sich zusammen. Sie schaute den kleinen Jungen in seinem Bett an, schaute ihm in seine runden Augen und verspürte den Drang, ihm etwas zu sagen: etwas Wahres. Etwas Aufrichtiges. Etwas, was die Erfahrung sie gelehrt hatte.
    »Erwachsen werden«, sagte sie und ihre Stimme gab nach, als sie sich fragte, was für dieses Kind in einer solchen Lage wohl das Richtige war. Sie schluckte. »Erwachsen werden …« Was hatte sie eigentlich erfahren? Schnell – sie musste nachdenken …
    »Hör zu. Er spricht wieder«, sagte der kleine Junge wieder, und diesmal hörte Oneida Eugene auf der anderen Seite des Vorhangs sagen, » Oneida, bitte erzähl es keinem. Es ist ein Geheimnis, Oneida. Es ist die Wahrheit .«
Er saß auf der Couch in Astors Atelier. Er hatte lange auf der Couch in Astors Atelier gesessen, wie er glaubte, denn sein Hintern tat ihm weh, dumpf und wie im Traum, nicht so sehr, dass er ihn hätte bewegen wollen, aber doch so, dass seine Pobacken sich taub anfühlten, wie flache Pfannkuchen aus Fleisch, die an sein Steißbein geschnallt waren. Hahaha. Er lachte und merkte dann, dass er nicht allein war; ein lustiger kleiner Mann saß am anderen Couchende. Er hielt mit den Händen seine Knie umklammert. Er trug einen dreiteiligen karierten Anzug, eine Fliege und eine Brille und war bis auf weiße Büschel über seinen Ohren fast ganz kahl.
Auch andere Leute waren zugegen – links von ihm saß Oneidas Mutter und zu seiner Rechten Arthur Rook, und sie taten so, als säße er gar nicht zwischen ihnen. Beide starrten geradeaus auf die weiße leere Wand von Astors Atelier, auf die Astor damals den Film projiziert hatte, in dem die Augäpfel aufgeschnitten wurden.
Heute lief ein anderer Film. Wendy wusste nicht, was es für einer war und woher er kam – er schien ziemlich alt zu sein, war aber in Farbe. Man hörte nichts, und es liefen Kratzer durchs Bild, die wie Blitze aufleuchteten. Ein blaues Ungeheuer, eine Kreuzung zwischen dem Ungeheuer von Loch Ness und dem Krümelmonster – es war sowohl pelzig als auch schuppig und hatte am Rücken eine riesige Stachelflosse –, erhob sich wild um sich schlagend aus einer altmodischen Badewanne, in der kein Wasser war.
Oneidas Mutter lachte. »Sie sagte, sie würde das Wasser später dazugeben. Hat sie wohl nie gemacht.«
Arthur reagierte überhaupt nicht. Er presste zwei Finger an seine Nase und schielte, als würde das wehtun, und sagte dann: »Hey – hey, Max. Bleib auf der 81. Ich weiß einen besseren Weg, wie wir da hinkommen.«
Dann wandten Oneidas Mutter und Arthur sich einander zu und starrten sich geradewegs durch den Raum, wo Eugenes Kopf hätte sein sollen, an, was ihm einen Moment lang Angst einjagte, weil er nicht wusste, ob er zerdrückt oder geschluckt wurde oder was wäre, wenn sie sich näher kamen, also schloss er seine Augen, und als er sie wieder aufschlug, waren sie weg. Der kleine Mann im Anzug war näher gerückt.
»Hi«, sagte Wendy. »Ich bin Wendy. Sie können mich Eugene nennen. Oder Wendell. Ich glaube, ich bleibe von nun an bei Wendell. Das
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