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Bilder von A.

Titel: Bilder von A.
Autoren: Carl Hanser Verlag
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zu einemganz großen, ganz unkonventionellen, poetischen, experimentellen, avantgardistischen und natürlich subversiven Projekt befeuerten. Denn wir identifizierten uns über alle Maßen mit Kleist und vereinnahmten sein Unglück, seine Wut und Verzweiflung über seine Ohnmacht, die wir aus seinen Werken und Briefen herauslasen, für unsere eigene Wut und Verzweiflung: Dies Land ein Grabeshügel aus der See.
    Kleist sprach von Preußen, aber wir meinten die DDR. Darüber waren wir uns von Anfang an einig, A. und ich, und daß auch wir unser Herz mit uns herumtragen, wie ein nördliches Land den Keim einer Südfrucht. Es treibt und treibt und kann nicht reifen.
    Damals konnten wir unser tägliches Unglück und die immerwährende Unzufriedenheit noch auf die politischen Verhältnisse in der DDR schieben, und erst später merkten wir, daß wir damit zwar nicht unrecht, aber auch nicht recht hatten, und wenn uns auch schon in vielen Romanen, vom Leben ganz zu schweigen, die Comédie humaine vorgespielt worden war, war es, als wir später in den Westen kamen, doch eine Enttäuschung, als wir uns dort gezwungen sahen, unsere Rollen einzunehmen und in dieser Komödie mitzuspielen, während wir das in der DDR noch dramatisch verweigert hatten; vielleicht hatten wir gegen Windmühlen gekämpft, aber doch auch um unsere Würde, und aus diesem Kampf, wenn wir nicht gerade in Resignation verfielen, eine gewisse Energie und Hoffnung gewonnen.
    Auf dem langen Marsch über die Karl-Marx-Alleekamen wir auch zu der Stelle, wo nun ein dummer leerer Platz an etwas Verschwundenes erinnerte. Trotz unseres Altersunterschieds erinnerten wir uns noch beide an das riesige Stalin-Denkmal, das hier gestanden hatte, und an die zahlreichen peinlichen und pharaonenhaften Zeremonien und Veranstaltungen, die davor abgehalten worden waren, A. hatte damals noch als Mitglied der neuen deutschen sozialistischen Jugend an ihnen teilgenommen, und auch ich konnte mich noch an eine solche Veranstaltung erinnern, bei der ich als kleines Mädchen an der Hand meines Vaters gespürt hatte, wie ein schaurig bewegtes Freudengefühl von ihm auf mich überging. In einer anderen Erinnerung läßt er mich einen Blumenstrauß an der Stalin-Statue niederlegen, während er im Auto wartet; vielleicht war das kurz nach Stalins Tod.
    A. und ich schüttelten uns, als wir uns an der dummen leeren Stelle unsere Erinnerungen erzählten, als könnten wir sie damit abwerfen, dann lachten wir einfach los, und dann küßten wir uns, während gerade die Sonne aufging und gleichzeitig aus dem ersten Morgenlicht ein Riesenlaster mit einem Anhänger auf der menschenleeren Straße auftauchte, als er an uns vorbeikrachte, hupte der Fahrer uns aufmunternd zu, und wir winkten lachend zurück.
    Und dann kam es, wie es kommen mußte, A. begleitete mich in meine Dachwohnung in der gerade umbenannten Kniprode-, jetzt Arthur-Becker-Straße, wir küßten uns wieder, in meiner Küche, auf dem Bett, aber die Nacht verbrachte er nicht bei mir, und das tat er auchspäter nie. Ich glaube, wir wollten beide vermeiden, uns beim Frühstück gegenüberzusitzen und zu fragen, möchtest du Käse oder Marmelade? Nur kein Alltag, sondern nur Poesie! Nur Kleist!
    Er hatte in meinem Zimmer schnell einen kleinen Zettel entdeckt, der mit einer Reißzwecke zwischen all die Bilder, Fotos und Zitate meiner Götter und Heroen an die Wand geheftet war. Diese Götter und Heroen waren Dichter und Künstler, die Bilder Reproduktionen von Kunstwerken und Fotos von Freunden, aber auch das Foto einer Familie, Vater, Mutter, Sohn, ganz bürgerlich gekleidet, während des Aufstands im Warschauer Ghetto hinter einem Maschinengewehr liegend, war dabei, Goethe von hinten am Fenster in Italien, Thomas Brasch von vorn im durchgehangenen Sessel in seiner Bude in Berlin, das Porträt des geschaßten Akademiemitglieds Sascha Nekritsch aus Moskau, auf das er »Für meine geliebte Mädchen« geschrieben hatte, denn er war ein sehr ernsthafter Wissenschaftler und Schürzenjäger, eine Zeichnung von Else Lasker-Schüler, Prinz Jussuf geht zu Gott , eine Katze von Giacometti und eine Umarmung von Picasso – an vieles erinnere ich mich heute nicht mehr. Die ganze Ansammlung war so etwas wie ein Schrein der Geister, die mir Mut zusprechen sollten.
    Diese Art Schrein gehörte zur Ausstattung aller, die wie ich am Rande des Kulturbetriebs in einer vagen Opposition zum Staat lebten. Aber auch ein ausgesprochener Dissident wie Wolf
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