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Bilder bluten nicht

Bilder bluten nicht

Titel: Bilder bluten nicht
Autoren: Léo Malet
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Gezirpe und den verstockten stummen Papagei und die leicht verstaubten grinsenden Gartenzwerge hinter mir und bog in die Rue Jean-Lantier ein. Aber keine platinblonde Gaby war zu sehen. Nestor Burma hätte wohl gleich die Rue St. Denis aufsuchen müssen. Da ist noch immer und eigentlich immer mehr das Auffanglager der Pariser Freudenmädchen. Rund zweieinhalbtausend sollen in der St. Denis und den kleinen Seitengäßchen ihr Zuhause haben. Aber die große Freiheit dürfen sie sich nicht herausnehmen. Angequatscht wird kaum jemand. Das Auge des Gesetzes drückt dasselbe kaum mehr zu, wenn Lulu oder Froufrou allzu dreist auf Kundenfang gehen. Schonzeit für Touristen, keine Konjunktur für Stars und Strapse. Ein schaler Abglanz der Place Pigalle, von deren fraglos fragwürdigem Ruf auch nur noch biedere Reiseführer zehren. Bonjour Tristesse. Und schuld daran ist Mutter Marthe. Die Abgeordnete Marthe Richard, die keinen Spaß an Freudenhäusern hatte, setzte kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in einem Kreuzzug für die guten Sitten die Schließung aller öffentlichen Häuser durch. Dieser Akt brachte ihr den Spitznamen veuve qui clôt ein (die schließende Witwe/Vergleich: Champagner-Marke veuve cliquot).

    In einer Seitenstraße der Rue St. Denis, der Rue St. Sauveur (was haben die vielen Heiligen in dieser Gegend zu suchen?) hatte sich früher das Nobel-Bordell der Madame Gourdan eingenistet. Eine der besten Adressen im alten Paris. Unter den Nachwuchskräften des Hauses machte eine gewisse Marie-Jeanne Bécu die steilste Karriere. Als geadelte Gräfin Dubarry brachte sie den sinnesfrohen König, in diesem Fall den 15. Ludwig, auf andere und nicht immer die besten Gedanken. Als Stammgast des renommierten Etablissements galt der auch nicht gerade prüde Marquis de Sade, der sich -wie in seinem Roman Justine beschrieben-vor allem im sogenannten Vulkan-Salon delektierte. Aber der Vulkan hat aus-gespien, und das Geschäftsgebahren der heutigen Mieter ist weit züchtigerer Natur. Das Schild am Eingang kündet von den Aktivitäten der Firma Lax und Lady, die sich auf die Produktion von Büstenhaltern verlegt hat.
    Es bleibt genügend Zeit, den Dessous dieses Viertels nachzuspüren. Was hätte ich Burma hinterherrennen sollen, in die Rue Lescot beispielsweise, in der kein Obsthändler mehr sein Grünzeug feilbietet und in keinem Lagerhaus mehr Bananen verstaut werden. Der vielzitierte Bauch von Paris ist zwar nicht leer, aber er ist ausgepumpt worden. „Die aufgehäufte, aber ekelhafte Speisekammer von Paris“, die schon den Ordnungssinn des deutschen Gastes Ernst Moritz Arndt aus dem Gleichgewicht gebracht hatte, wurde Ende der 60er Jahre nach Rungis verfrachtet, einen Vorort im Süden der Stadt, nahe am Flughafen Orly. Es war ein schwerer Abschied.
    In der Kirche St. Eustache hatten viele Zünfte der Markthallenhändler ihre eigenen Kapellen. Eine Art Krippenspiel erinnert dort an ihren erzwungenen Auszug, ihre Vertreibung aus dem Reich der Düfte.
    Als der Kahlschlag-Meister des 19. Jahrhunderts, der unermüdliche Baron Haussmann, den Architekten Baltard die Hallen bauen ließ, gab es schon nicht mehr den vormals größten Friedhof der Stadt, den Cimetière des Innocents, an dessen Stelle sich heute ein Brunnen befindet, die Fontaine des Innocents, die Quelle der Unschuldigen.
     
    Ein hübscher Name. Mag den Toten noch gottesgnädig Unschuld zuteil werden - die dort Lebenden haben mit ihr nicht viel im Sinn. „Jedes Haus ist offen“, hat sich schon der verschreckte Ernst Moritz Arndt empört und - schlimmer noch - „die Spazierenden oder Verirrten werden gastfrei zum Bette und Schlummer eingeladen.“ Und in einem dieser Häuser in der benachbarten Rue Pierre-Lescot, in dem freilich nur Bananen und keine Damen lagen, hat man dem armen Lheu-reux den Garaus gemacht.
    Das ,Père Tranquille’, in dem Burma den angesäuselten Herrn Lheureux erstmals ausfindig gemacht hatte, steht noch. Es sollte nach dem Abbruch der Hallen eigentlich gleich mit abgerissen werden, wurde dann aber renoviert und erfreut sich heute regen Zuspruchs.

    Wahrscheinlich, weil es gegenüber dem neuen Hallen-Forum liegt, diesem monströsen Disneyland aus Stahl und Glas und Plastik, in dem sich bei sündhaft teuren Ladenmieten zig Boutiquen eingenistet haben, unter und über der Erde. Wo der Bauch von Paris seinen Platz hatte, hat sich nun ein Magengeschwür aufgetan. Aber das ist erst der Anfang. Hinter dem mehrgeschossigen Vieleck aus Glas und
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