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Bewegt Euch

Bewegt Euch

Titel: Bewegt Euch
Autoren: Hajo Schumacher
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Fußspuren im Schlamm ermittelt, dass australische Aborigines auf der Jagd bis zu 37 km/h schnell gelaufen sind, exakt so fix wie der 100-Meter-Weltrekordler Usain Bolt.
    Ähnlich verhält es sich mit dem täglichen Bewegen. Was heute in Fitness-Studios organisiert wird, war früher Arbeit. Aus Mangel an Technik musste der Mensch selbst wetzen und schleppen und rackern. Gnadenlos ließ die Evolution jeden Steinzeitler verschwinden, der den Aktionsradius von 15 Kilometern, oft mit Gepäck, Beute, Waffen, nicht bewältigte. Ohne Fahrzeuge, Gewehre und Rollkoffer ist der ganze Tag eine Übungseinheit. Selbst das Trainingspensum unserer Elitesport ler reiche nicht an die Herausforderungen heran, denen frühere Menschen bei der Jagd auf Tiere ausgesetzt waren, sagt der Wissenschaftler McAllister.
    Gut möglich, dass die immensen täglichen Wege einen Einfluss auf die Psyche unserer behaarten Vorfahren hatten. Was macht ein Wesen, das stundenlang allein oder in kleiner Gruppe durch die Gegend rennt, vermutlich über weite Strecken im Energiesparmodus? Es vertreibt sich die Zeit, mit Gedanken, dem Sinnen über eine Jagdstrategie, mit der Freude über Beute, mit der Trauer, wenn ein Kamerad sein Leben ließ.
    Das tägliche Verarbeiten des Lebens ist eben kein Projekt, das sich in Kurse auslagern lässt, sondern ein ständiges Bedürfnis, das Zeit braucht. Der Steinzeitmensch war da schon sehr fortschrittlich.

Finde das Nichts

    Wenn ich meinem Geist beim Laufen freien Lauf lasse, ist das wie Therapie für mich, es ist eine andere Art des Träumens. Die Dämonen weichen der Kreativität.
    Kathrine Switzer, Pionierin des Marathonlaufs
    Wir idealisieren das Leben des Südsee-Insulaners. Ein Lendenschurz, Fisch und Kokosnüsse, die Hängematte – mehr braucht es nicht zum Glücklichsein, sofern die Satellitenanlage die Sportschau sauber empfängt.
    Wer läuft, ist eine Art Eingeborener auf Zeit. Wenig Kleidung, Wildnis, einen Riegel oder die Wasserflasche, vielleicht noch Musik auf den Ohren. Nur eben keine Hängematte. Status ist nicht wichtig. Frei ist, wer wenige Bedürfnisse hat, so predigt das Christentum seit 2000 Jahren. Bewegen heißt Reduzieren, für ein Weilchen unabhängig sein von Klimbim.
    Gutes Leben und Luxus sind keine Geschwister, sondern oftmals Feinde. Weniger Optionen bedeutet weniger Auswahlstress, weniger Zweifel, weniger »Hätte ich doch nur …«. Bewusstes einfaches Bewegen, ohne unentwegt am Smartphone herumzufummeln, ist eine gute Methode, um in die Zone des Nichts vorzustoßen, wenn Vergangenheit und Zukunft sich auflösen und alles eins wird.
    Ich bin süchtig nach diesen kurzen Augenblicken, die andere Menschen beim Musizieren oder beim Meditieren erleben. Ist es der Flow? Das Endorphin? Eine Art Kontakt in andere Sphären? Ich weiß nur: Je mehr ich diesen Moment herbeizwingen will, desto weiter entschwindet er. Mit Willen ist nicht viel zu erreichen, eher mit Loslassen, Abschütteln.
    In indischen Heilslehren werden Stufen benannt, die der Schüler erreichen kann: Bezähmungen, Atemkontrolle, Rückzug der Sinne und Konzentration. Höchste Stufe ist die Trance. Es ist ein gutes Gefühl, auf den ersten Stufen ein wenig herumzustromern. Es muss ja nicht gleich Erleuchtung sein.
    Spannend ist der widersprüchliche Effekt, dass ausgerechnet Bewegung tiefe Ruhe schafft. »Je länger die Strecke, desto größer die Chance, in gewisse meditative Stimmungslagen zu geraten«, sagt der Hyperbeweger Wigald Boning, der gern bei 24-Stunden-Wettbewerben mitmacht. »Das Großhirn hat dann Pause – juchhu.«
    Die vorübergehende Hirnabschaltung sorgt dafür, dass Distanz geschaffen wird zwischen Sportler und Welt. Dinge, die mich am Start noch nerven, rücken in die Ferne, sie verlieren ihre oft destruktive Macht, ihre Angstkraft.
    Diese Erfahrung hat auch Hera Lind gemacht, einst Heldin meiner Mutter. Eine Frau im Glück, die am Ende des vergangenen Jahrhunderts Karriere, Familie und blendendes Aussehen mit einer guten Portion pragmatischen Humors scheinbar spielend zusammenhielt. Mit ihrem Roman Das Superweib wurde Hera Lind reich und berühmt. Dummerweise hatte sie all ihr Geld leichtfertig in Ost-Immobilien gesteckt, konnte man ja so toll Steuern sparen. Zehn Jahre später funktionierte die EC-Karte plötzlich nicht mehr. Der Gerichtsvollzieher räumte das Haus aus, was insofern praktisch war, da es eh verkauft werden musste.
    Die Exmillionärin Lind war pleite. Der Freundeskreis reduzierte sich gewaltig,
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