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Bevor der Abend kommt

Titel: Bevor der Abend kommt
Autoren: Joy Fielding
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sie stand wieder in der morgendlichen Rushhour auf dem Bahnsteig der U-Bahn-Station St. Clair, einen Arm um die Schulter ihrer scheinbar fügsamen Nachbarin gelegt. In einem Moment gingen sie noch friedlich Richtung Ausgang, die Katastrophe war wie durch ein Wunder abgewendet, und im nächsten Moment drückte Faith Cindy ihr Baby in die Arme, riss sich los und stürzte sich vor die U-Bahn. Cindy hörte den furchtbaren Aufprall eines Körpers
auf Metall, das durchdringende Kreischen der Bremsen, entsetzte Schreie der Umstehenden.
    Und dann Chaos.
    (Chaos: Menschen rennen in alle Richtungen. Die in der U-Bahn eingesperrten Passagiere pochen gegen die Türen, um herausgelassen zu werden. Der Geruch von Erbrochenem liegt in der Luft. Der aschfahle Fahrer presst sein Gesicht ans Seitenfenster und schreit in sein Funkgerät. Irgendwo über ihnen heulende Sirenen. Polizisten und Notärzte treffen ein. Die Polizisten verlangen Informationen. Irgendjemand weist auf Cindy, die auf dem schmutzigen Boden sitzt, den Rücken an die gelben Kacheln gelehnt, die Beine ausgestreckt wie eine leblose Stoffpuppe, die das nun schlafende Baby in ihren Armen wiegt und ins Leere starrt.
    »Können Sie uns sagen, was passiert ist?«, fragt ein Polizist, der vor Cindy kniet und seine breiten Schultern in ihr Blickfeld schiebt. »Kannten Sie die Frau?«
    Cindy starrt den jungen Mann an, registriert jedoch nur seine dunkelbraunen Augen. »Sie ist meine Nachbarin«, antwortet eine fremd klingende Stimme aus scheinbar weiter Ferne.
    »Können Sie uns ihren Namen sagen?«
    »Faith Sellick. Faith«, wiederholt Cindy, und der Klang des Namens implodiert in ihrer Lunge, während Worte der fremden Stimme zur Decke flattern wie Motten. »Ist sie tot?«
    Schweigen.
    Dumme Frage, denkt Cindy, als der Beamte zur Bestätigung die Augen schließt.
    »Gibt es irgendjemanden, den wir benachrichtigen können?«
    »Ihren Mann.« Die fremde Stimme liefert dem Beamten die notwendigen Informationen. Cindy beobachtet, wie er sie in einem Block notiert. Wie oft hat sie das in letzter Zeit beobachtet? Zu oft. Viel zu oft. »Das ist Kyle«, fährt die fremde Stimme fort. »Faiths Baby.«
    »Sie müssen uns ganz genau berichten, was vorgefallen ist.«
Der Beamte winkt einen Kollegen zur Hilfe. »Können Sie das?«
    Die beiden Beamten fassen Cindys Ellbogen und helfen ihr auf, auch wenn der Boden unter ihren Füßen alles andere als fest wirkt, so als stünde sie auf einem Laufband. Cindy hält Kyle fest umklammert und wehrt sich gegen alle Versuche, ihn ihr abzunehmen.
    »Fühlen Sie sich dazu auch in der Lage?«, fragte der Polizist mit den braunen Augen, auch wenn die Worte verzerrt waren, als würde jemand ein Tonband zu schnell abspulen.
    Cindy nickt und geht, eskortiert von den beiden Beamten, langsam zum Ausgang.
    »Wie lautet Ihr Name?«, fragt einer der Beamten Cindy, die durch eine plötzliche Bewegung auf den U-Bahn-Gleisen abgelenkt wird.
    »Cindy«, antwortet die fremde Stimme, und Cindy wünscht sich für einen Moment, dass die Frau aufhören würde zu reden, damit sie für sich selbst sprechen kann. »Cindy Carver.«
    »Cindy Carver?«, wiederholt der zweite Beamte und bleibt an fast genau derselben Stelle stehen wie vorhin Faith. »Die Mutter des vermissten Mädchens?«
    In diesem Moment sieht Cindy, wie die Notärzte Faiths verdrehte Leiche auf eine Bahre legen, und bemerkt einen abgerissenen Fetzen ihres blauen Kleids auf den Gleisen. Sie wendet sich ab, und ihr Blick fällt auf kleine Stücke menschlichen Fleischs, die von der blutbespritzten Frontscheibe der U-Bahn tropfen.
    »Sind Sie Julia Carvers Mutter?«, fragt der erste Beamte und starrt Cindy mit seinen braunen Hundeaugen an.
    Doch in Cindys Ohren hat ein Summen begonnen, das so laut ist, dass sie ihn nur mit Mühe versteht. Sind … Julia Carvers Mutter? Sind … Julia Carvers Mutter? Sind Sie Julia … Mutter ?
    Und dann übernimmt wieder die fremde Stimme das Kommando.
»Verzeihung«, sagt sie ruhig, während Cindy dem Polizisten mit den braunen Hundeaugen Kyle in die Arme drückt, so wie Faith vorher ihr. »Ich glaube, ich werde ohnmächtig.« Sie spürt, wie ihre Knie weich werden, sie schwankt. Ihre Augen verdrehen sich nach innen, und ihr Körper sinkt wie in Zeitlupe in sich zusammen wie ein Klappstuhl. Ich werde langsam richtig gut darin, denkt sie noch, während sie auf die harten Fliesen fällt.
    »Sie hat das Baby gerettet, wissen Sie«, sagt irgendjemand, als ein fremder Arm ihren
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