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Bettler und Hase. Roman

Bettler und Hase. Roman

Titel: Bettler und Hase. Roman
Autoren: Tuomas Kyrö
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klingelte, verließ Vatanescu die Kabine. Wenig später saß er auf Deck sechs in einem Sessel, der sich drehte. Das Klimpern der Flaschen im Tax-free-Shop, die elektronischen Stimmen und Münzlawinen der Spielautomaten, das Geschwirre und Gezische, das Kreischen und Grölen von Kindern – bei alldem fiel Vatanescu die Zweiteilung gar nicht auf, die so klar war wie eine Schnapsflasche im Gefrierfach: Über die Auslegeware schlurften und stöckelten Menschen zweierlei Art, nämlich erstens die Gruppe der Kurzbeinigen, Ernsten, Plattnasigen, deren Kinder wie die Eltern aussahen. Sie nannte man Finnen. Dann gab es die Gruppe der Langbeinigen, Fröhlichen, Schmalnasigen, deren Eltern wie die Kinder aussahen. Sie nannte man Schweden.
    Vatanescu drehte sich im Sessel und sah unterernährte Frauen mit hundert Kilo schweren Nachkommen, die auf der Treppe keuchten, Limonade tranken und ihren Eltern gegenüber nichts als Forderungen äußerten. Vatanescu stieß sich ein weiteres Mal leicht mit dem Fußballen ab, worauf der Sessel eine Viertelumdrehung machte. Speiserestaurants, Lokale, wo aufgespielt wurde, der steuerfreie Laden. Da stand er lieber auf, um aufs Meer zu schauen, obwohl es bereits dunkel wurde. Die Wellen hatten weiße Ränder, auf den Schären brannten Lichter, und er war hier, auf einem Schiff, das einer Kombination aus Wohnblock und Einkaufszentrum glich.

    Vatanescu schlüpfte an einem Ober, der irgendwelche Listen studierte, vorbei ans Buffet und lud sich, wie die anderen, den Teller voll. Salate auf Mayonnaisebasis, Lachs in allen Varianten, Fleisch, Aufschnitt, Würstchen.
    Er setzte sich auf den ersten freien Platz einem älteren Ehepaar gegenüber, Pentti und Ulla oder Holger und Agneta, was hatte es schon für einen Sinn, sie auseinanderzuhalten, denn mehr Aussagekraft als die Namen hatten die Blicke des Paars. Sie pickten Erbsen mit der Gabel auf und lächelten reizend, sich ihrer Wichtigkeit und des näherrückenden Todes bewusst. Sie waren füreinander wichtig; würde der eine gehen, würde der andere seine Sachen packen und ihm folgen. Bis dahin waren sie eins mit ihrer gesamten Reise und Vergangenheit, mit allen Tagen seit dem Frühling 1938 , und heute verdichtete sich die Zufriedenheit mit ihrem Leben in Krabben, Bratenscheiben und kleinen Gläsern Rotwein.
    Miklos würde sich als Erstes von den Würstchen nehmen. Noch Jahre später wüsste mein Sohn genau, wie viele er gegessen hatte.
    Dazu Ketchup und noch mehr Ketchup. Er würde mir mit den Augen danken, und ich würde ihm versprechen, dass wir mehr als genug Zeit hätten, um Spielzimmer, Rallye-Automaten und Tax-free-Shop abzuklappern, bevor wir uns in der Kabine schlafen legten.
    Nach den schwedischen Atomkriegskonserven konnte Vatanescus Magen die überbordende Menge an panskandinavischem Buffetfraß nicht verarbeiten. Die zu schnell gefüllten Proteinspeicher von Körper und Seele drohten in Form von Durchfall wieder geleert zu werden – und zwar innerhalb weniger Minuten. Vatanescu nickte Pentti und Ulla beziehungsweise Holger und Agneta höflich zu, dann rannte er schnurstracks zur Kabine.

Hätte Jegor Kugar pusten müssen, hätte er gut und gern anderthalb Promille gehabt. Darum erkundigte er sich, ob Vatanescu Auto fahren könne. Dieser nickte, wohl wissend, dass man weniger Falsches sagte, wenn man den Mund hielt.
    Langsam ließ er das Fahrzeug aus dem Schiffsschlund in den hellen Tag gleiten, wobei er das Gefühl hatte, selbst gar nicht zu dieser Helligkeit zu gehören. Jegors Anweisungen gemäß wählte er die grüne Spur – nichts zu verzollen, nichts zu berichten, nur jede Menge zu verheimlichen – und hatte extreme Schwierigkeiten, vom Zweiten in den Dritten zu schalten. Jegor Kugar tippte im Navigator das Fahrziel ein, was der Apparat mit der Feststellung beantwortete, die Entfernung betrage etwas mehr als einen Kilometer.
    Hinter ihnen fuhren Pentti und Ulla beziehungsweise Holger und Agneta vom Schiff, in einem Nissan Primera, der seit Menschengedenken fristgerecht zur Inspektion gegeben wurde und bei dem nicht nur Fahrer und Beifahrerin, sondern sogar das Auto selbst wussten, wohin die Reise ging. Würde bei Pentti oder Holger das Herz aussetzen, würde das Auto den toten Mann nach Hause bringen, zu dem Eigenheim mit Ölheizung in ländlicher Umgebung, in dem jedes Möbelstück seit der Olympiade in Helsinki auf demselben Platz stand. Nur die wöchentlich erscheinende Frauenzeitschrift wechselte den Platz vom
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